Berlin.

Der Terminkalender von Wladimir Putin ist ziemlich voll, und so wie es aussieht, hat der russische Präsident nur am kommenden Montag Zeit, um den deutschen Vizekanzler Sigmar Gabriel in Moskau zu empfangen. Am selben Tag aber wird sich Gabriel, der ja im Nebenberuf SPD-Vorsitzender ist, vermutlich mit den anderen sozialdemokratischen Partei- und Regierungschefs in Europa treffen, entweder in Paris oder in Brüssel. Man will vor dem EU-Gipfel am Dienstag über die Konsequenzen aus dem EU-Referendum in Großbritannien bereden.

Putin oder Brexit heißt die kurzfristige Frage für Gabriel also, und weil die Probleme in Europa gerade etwas drängender sind, wird der Wirtschaftsminister – so der Stand von gestern – wohl nicht nach Moskau reisen. Geplant aber ist die Reise. Im Oktober war Gabriel das erste Mal bei Putin – offiziell als Wirtschaftsminister, aber auch als SPD-Politiker und als „Privatmann“, wie er damals sagte.

Diese Gabriel’sche Dreiteilung passt ganz gut zur politischen Gemengelage, die sich gerade aus seinen Reiseplänen, aus seinem jüngsten Appell für ein „Linksbündnis“ in Deutschland und aus der jüngsten Kritik von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Nato entwickelt hat. Die Union erkennt darin die Botschaft, dass Gabriel und Steinmeier schon mit dem Wahlkampf beginnen und dass sie die Nähe zu Russland suchen, um sich innenpolitisch neue Bündnisoptionen jenseits der großen Koalition zu eröffnen. Auch wenn beide sicher keine ganz so großen Putin-Versteher werden wie dereinst Gerhard Schröder.

Jedenfalls attackierten CDU und CSU Steinmeier für seine Äußerungen zu den Nato-Manövern in Osteuropa gestern den dritten Tag in Folge und warfen ihm vor, aus „parteitaktischen Gründen“ die deutsche Reputation in der Nato zu beschädigen. Er solle bloß nicht die gemeinsame Regierungslinie in der Russland-Politik verlassen, warnte Fraktionschef Volker Kauder. Steinmeier hatte am Wochenende gesagt, man solle die Lage in Osteuropa nicht durch „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ weiter anheizen. Gabriels Pläne für ein „Bündnis aller progressiven Kräfte“ gegen das Erstarken der Rechten kommentierte Kauder gestern so: „Wenn die SPD meint, sie müsse sich jetzt auf den Wahlkampf vorbereiten, soll sie es tun.“

Tatsächlich erkennen politische Beobachter gegenwärtig in der SPD eine tiefe Sehnsucht, an die alten Zeiten der Ostpolitik anzuknüpfen. Die Entspannungsbemühungen von Willy Brandt und Egon Bahr haben in der Partei seit jeher den Status eines Glaubensbekenntnisses – auch wenn sich die Welt inzwischen verändert hat, und auch wenn Sozialdemokraten erschrocken sind über Putins Politik in der Ostukraine und auf der Krim. Die Wahlkämpfer Gabriel und Steinmeier aber spüren, dass ihre Partei ein mobilisierendes Moment gebrauchen kann. Die bewusst zweideutigen Botschaften, die beide in den vergangenen Tagen zur Russland-Politik sendeten, zielten darauf. Der Umgang mit Moskau ist eines der wenigen Themen, bei denen sich Union und SPD noch deutlich voneinander unterscheiden.

Als Gabriel im Oktober in Moskau war, wie gesagt: offiziell als Wirtschaftsminister, äußerte er auch dezidiert „private Meinungen“. Er wünschte sich eine wieder engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland. Auch einen Abbau der Sanktionen, die die EU gegenüber Russland wegen der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine verhängt hatte, regte Gabriel an, aber auch das nur rein „privat“. Noch im Jahr 2000 – also zu Zeiten Gerhard Schröders – seien die deutsch-russischen Beziehungen deutlich besser als heute gewesen, soll er gesagt haben, und ihm sei nicht klar, warum das nicht mehr so sei. So stand es damals im vom Kreml veröffentlichten Gesprächsprotokoll.

EU verlängert Sanktionen gegen Russland

In diesem März dann plädierte Gabriel als Wirtschaftsminister und Vizekanzler ganz offiziell in einer Rede vor dem Deutsch-Russischen Forum für einen „Neuanfang“ des Dialogs mit Moskau. Ziel müsse die Aufhebung der Sanktionen noch im Sommer sein. Trotz der völkerrechtswidrigen Aneignung der Krim müsse man Wege der Verständigung mit Russland suchen. Sogar für ein Freihandelsabkommen der EU mit Russland warb Gabriel.

So weit wird es erst einmal nicht kommen. Zwar gibt es in der EU höchst unterschiedliche Haltungen zu den Sanktionen. Gestern aber einigten sich alle 28 EU-Staaten noch einmal darauf, die Wirtschaftssanktionen um weitere sechs Monate zu verlängern. Sie sollen nun bis Ende Januar 2017 bestehen bleiben. Den Beschluss fassten die Botschafter der einzelnen Staaten in Brüssel untereinander, am Freitag sollen die Mitgliedsländer ganz offiziell zustimmen.

Sollte es Schwierigkeiten geben, weil das britische und das französische Parlament dagegen sind, müssten sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel am Dienstag und Mittwoch damit befassen – was aber, und da schließt sich der Kreis zu Gabriels Reiseplänen, gar nicht erst auf die Tagesordnung kommen dürfte, wenn Großbritannien vorher wirklich beschließen sollte, aus der EU auszusteigen. Dann gibt es Wichtigeres zu besprechen. Dann muss Putin warten – nicht nur auf den Besuch von Gabriel.