Berlin. Neun von zehn Frauen, die Kuren beim Müttergenesungswerk machen, leiden unter schweren Erschöpfungszuständen

„Ich kann nicht mehr.“ Es dauert lange, bis Mütter diesen Satz nicht nur denken, sondern auch laut aussprechen. Und noch länger dauert es oft, bis sie sich Hilfe suchen. „Viele Mütter glauben, dass sie die einzigen sind, die Beruf, Kinder und Haushalt nicht mehr schaffen“, sagt Anne Schilling vom Müttergenesungswerk. „Wenn sie dann aber auf andere erschöpfte Frauen treffen, sehen sie, dass sie nicht die einzigen sind.“ Im Gegenteil: Umfragen legen nahe, dass in Deutschland rund zwei Millionen der etwa acht Millionen Mütter mit minderjährigen Kindern kurbedürftig wären – doch weniger als fünf Prozent können oder wollen sich eine Auszeit nehmen.

Dabei gibt es immer mehr ausgebrannte Mütter: Im letzten Jahr ist die Zahl der Frauen, die wegen Erschöpfung eine Kur beim Müttergenesungswerk gemacht haben, weiter gestiegen. Bei neun von zehn Frauen wurden schwere Erschöpfungszustände, Depressionen, Angst- und Schlafstörungen festgestellt. „Erschreckend ist die stetig wachsende Zahl von Erschöpfungszuständen – inzwischen kommen 87 Prozent aller Mütter mit dieser Indikation in die Klinik“, sagte die Kuratoriumsvorsitzende und SPD-Politikerin Dagmar Ziegler bei der Vorstellung des Jahresberichts des Genesungswerks in Berlin. Allein zwischen 2003 und 2013 ist die Zahl der Erschöpfungsdiagnosen um mehr als 30 Prozent angewachsen.

„Viele Frauen denken erst ganz zum Schluss an sich selbst“, beobachtet Schilling. Erst wenn sie nicht mehr funktionieren, ziehen sie die Reißleine. Und haben oft selbst dann noch ein schlechtes Gefühl, weil Scheitern nicht in ihr Selbstbild passt: „Sie wollen besonders gute Mütter sein, sie wollen die gesellschaftlichen Anforderungen oft noch toppen.“ Dabei sind die üblichen Anforderungen schon immens: Mütter wollen und sollen ihre Kinder vom ersten Schritt bis zum glänzenden Abitur liebevoll betreuen und fördern. Sie sollen aber auch so schnell wie möglich zurück in den Job, um die Sozialkassen und ihr eigenes Rentenkonto zu füllen. Sie wollen eine partnerschaftliche Beziehung und sehen, dass der Großteil der Hausarbeit an ihnen kleben bleibt. Und immer mehr kümmern sich um die Pflege von Angehörigen.

Rund 49.000 Mütter haben im letzten Jahr eine Kur beim Müttergenesungswerk gemacht. Drei von zehn Frauen waren alleinerziehend, die große Mehrheit war berufstätig, knapp 20 Prozent sogar in Vollzeitjobs. Jede fünfte Frau musste mit einem Haushalteinkommen von weniger als 1500 Euro im Monat auskommen, 16 Prozent hatten ausländische Wurzeln. Die Zahl der Männer, die Vater-Kind-Kuren in den Kliniken des Müttergenesungswerks machen, liegt deutlich niedriger, stieg im letzten Jahr aber immerhin um 24 Prozent auf rund 1500 Männer an. Auch bei den Vätern kamen die meisten mit Erschöpfungssymptomen. Kein Wunder: Jeder zweite arbeitete mehr als 40 Stunden pro Woche. „Wenn sie dazu noch familienbezogene Aufgaben wahrnehmen, kommen auch Männer an ihre Grenzen und werden krank“, sagt Ziegler. Dass sich nicht viel mehr erschöpfte Väter zu Kuren melden, liege auch an der fehlenden öffentlichen Akzeptanz: „Das kollidiert mit dem Männerbild“, glaubt Schilling.

Auf die Frage, was Mütter und Väter am meisten belastet, antworteten beide Gruppen unisono: der ständige Zeitdruck und die Belastung durch den Beruf. Hinzukommen Geldsorgen, Erziehungsprobleme und Ärger mit dem Partner. „Unsere Ärzte beobachten, dass die Frauen immer kränker in die Kur kommen“, sagt Schilling. Anders als in der Vergangenheit lehnen die Krankenkassen mittlerweile nur noch elf Prozent der Anträge ab.

Doch nach wie vor wissen viele gar nicht, welche Ansprüche sie haben: Während die klassischen Mutter-Kind-Kuren den meisten bekannt sind, wissen nur wenige, dass es auch Angebote nur für Mütter oder für pflegende Angehörige gibt. Dabei ist gerade hier der Bedarf besonders hoch: Rund 70 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt, hauptsächlich von Frauen.