London. Der ehemalige Londoner Bürgermeister und konservative Politiker kämpft für den britischen Austritt aus der Europäischen Union – eine Nahaufnahme

Kurz bevor er auf die Bühne geht, fährt er sich noch einmal schnell mit der Hand durch die Haare. Das macht er immer so, denn sein Markenzeichen ist sein strohblonder Schopf, möglichst zerwuschelt. Genau wie sein Anzug: Der muss zerknittert sein. Boris Johnson hat seine öffentliche Person sorgsam kultiviert. So kennen ihn die Leute, so lieben sie ihn. Etwas linkisch, etwas unbeholfen, wie ein Underdog halt, der scheinbare Verlierer, der von den Briten ja traditionell geliebt wird.

Boris Johnson springt auf die Bühne. Vor sieben Jahren war er schon einmal hier, im Eastend von London, als er 2009 „Forman’s Fish Island“ eröffnete in seiner Eigenschaft als damaliger Bürgermeister der Hauptstadt. Jetzt wird er eine Rede über Europa halten. Johnson ist der oberste „Brexiteer“ im Lande, die Galionsfigur derjenigen, die für Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union in der Volksabstimmung am 23. Juni streiten.

Der 51-Jährige ist der mit Abstand beliebteste Politiker

„Wir sehen“, beginnt Boris, und hat gleich die ersten Lacher auf seiner Seite, „dass wir hier nicht in einer Sitzung für die Instandhaltung der Europäischen Union sind“. Da hat er recht. Diese Kundgebung ist Hardcore, ein Heimspiel: Die Rallye findet ausschließlich für Anhänger von „Vote Leave“, der offiziellen Brexit-Kampagne statt. „Man spürt die Welle des Optimismus hier im Saal“, ruft Boris, „lasst uns diesen Pessimismus beenden, mit dem die Gegenseite uns eine graue Vision der Zukunft nach der anderen auftischt“. Seine Zuhörer jubeln und werden langsam ekstatisch.

Boris Johnson ist Abgeordneter der Konservativen Partei und ein Politiker der Sonderklasse, denn er hat einen öffentlichen Sexappeal der herkömmliche Parteiloyalitäten transzendiert. Der 51-Jährige ist der mit Abstand beliebteste Vertreter seiner Zunft im Land. Jeder kennt ihn beim Vornamen. Sein gewollt tollpatschiges Auftreten maskiert, dass er blitzgescheit ist. Johnson errang ein Stipendium für das Eliteinternat Eton und studierte klassische Philologie in Oxford. Der Fernsehmoderator Jeremy Clarkson brachte die Boris-Methode einmal auf den Punkt. „Die meisten Politiker“, eröffnete Clarkson ein Interview mit Johnson, „sind ziemlich inkompetent und legen dann eine dünne Schicht an Kompetenz auf. Sie scheinen das andersherum zu machen.“ Naja, antwortete Boris trocken: „Sie können nicht die Möglichkeit ausschließen, dass hinter der sorgfältig konstruierten Fassade eines Vollidioten auch ein Vollidiot lauert.“ Und hatte einmal wieder die Lacher auf seiner Seite.

Eine Episode, die sich 2012 während der Olympischen Spiele in London ereignete, illustriert das Boris-Phänomen ziemlich gut: Johnson wollte eine 320 Meter lange Seilbrücke im Victoria-Park einweihen. Setzte sich einen etwas lächerlich aussehenden blauen Schutzhelm auf, hängte sich mit Karabinerhaken an den Stahldraht und rutschte los. Blieb auf dem letzten Drittel hängen und baumelte in sechs Metern Höhe am Seil. Man sollte meinen, jetzt wäre er hilflos der Lächerlichkeit preisgegeben. Nicht so Boris. Der Bürgermeister wedelte begeistert mit zwei britischen Fähnchen und hielt eine launige Rede: „Alles bestens organisiert“, schrie er, „holt mir eine Leiter!“ Die Leute im Park lachten sich scheckig, aber nicht über, sondern mit ihm.

Wenig hilft einem Politiker mehr als ein Talent für Humor. Davon hat Boris reichlich. Es sind sein Mundwerk, sein Mutterwitz und seine Respektlosigkeit, die ihm Sympathien einbringen. Selbst wenn er sich hin und wieder im Ton vergreift, Witzeleien über Schwarze macht oder ganze Städte beleidigt. Über Portsmouth hat er einmal gelästert: „ein Ort, der zu voll ist mit Drogen, Fettleibigkeit und Labour-Abgeordneten“. Papua-Neuguinea charakterisierte er durch „Orgien des Kannibalismus und Häuptlingsmorde“. Doch die Briten mögen ihn trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb. Er spielt den Polit-Clown, aber hinter der Fassade stecken ein messerscharfer Intellekt und ein unermüdlicher Ehrgeiz.

Sein Eintreten für den Brexit ist eine logische Konsequenz

Jetzt hat er sich den Abschied von Europa auf die Fahnen geschrieben. Etwas überraschend kam das für Freunde und Weggefährten, denn Boris war nie ein Europahasser vom Kaliber eines Nigel Farage, des Chefs der rechtspopulistischen Partei Ukip. Allerdings stand Europa ganz am Anfang der Karriere von Johnson. In den 90er-Jahren war der Blondschopf der Brüssel-Korrespondent des „Daily Telegraph“. Er spezialisierte sich auf das sogenannte „Brussels Bashing“: Das unermüdliche Einschlagen auf die EU-Kommission als einer Bastion von Bürokraten, die ihr föderalistisches Programm und ihre absurden Regularien Großbritannien aufzwingen wollen. Das gab es in dieser Art vor Johnson noch nicht in den britischen Medien.

Und Boris gab dem Affen Zucker, ohne es immer mit der Akkuratesse seiner Geschichten genau zu nehmen. Ob es um EU-Direktiven über die korrekte Krümmung von Gurken, um die Haarnetzpflicht für Fischer oder um Kondomgrößen ging, Johnson nahm ein Körnchen Wahrheit, übertrieb gewaltig und schuf Euro-Mythen, um seine Kardinalthese zu illustrieren: Dass Brüssel eine Gefahr für das Königreich darstelle. „Er hat Storys erfunden“, urteilte Rory Watson, ein damaliger Kollege.

Sein Eintreten für den Brexit ist da eine ganz logische Konsequenz. Großbritannien würde 350 Millionen Pfund pro Woche nach Brüssel überweisen, ruft Johnson seinen Zuhörern bei der Vote-Leave-Rallye zu. Experten meinen: Die genaue Höhe des britischen Mitgliedbeitrags liegt bei der Hälfte. Sobald das Land „die Brüsseler Ketten“ abgestreift habe, verspricht Boris, winke eine blühende Zukunft. 300.000 neue Arbeitsplätze würde man schaffen! „Dort draußen gibt es eine große Welt der Chancen und des Wohlstands, wenn wir die Gelegenheit nutzen, die Kontrolle wiederzuerlangen.“ Die Leute glauben es gerne. Der Saal wird immer begeisterter, der Lautpegel steigt. „Der Tag nach dem Referendum“, ruft Boris Johnson, „wird unser Tag der Unabhängigkeit!“ Frenetischer Applaus brandet auf, Boris-Boris-Rufchöre erschallen. Die Kundgebung der Vote-Leave-Kampagne hätte nicht besser enden können.