Berlin.

Lilly verschanzt sich am liebsten in ihrem Zimmer. Die 14-Jährige steht nicht mehr pünktlich auf. Sie wäscht sich nicht, zieht sich nicht mehr chic an, schwänzt manchmal sogar die Schule. Stattdessen sitzt sie vor ihrem Computer oder ist in ihr Smartphone vertieft. Der Teenager ist in sozialen Netzwerken aktiv, sendet Nachrichten und antwortet. Oder sammelt Punkte in strategischen Computerspielen. Und dies täglich. Stundenlang.

Wenn Eltern ein solches Verhalten an ihrem Kind feststellen, sollten sie aufhorchen, sagt Marlene Mortler (CSU), die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. „Wenn Jugendliche in den sozialen Netzwerken oder Computerspielen so gefangen sind, dass sie nicht mehr ihrem Schulalltag nachgehen, besteht die Gefahr, süchtig zu sein. Dann brauchen sie Hilfe“, beschreibt Mortler ein neues Suchtproblem.

Jeder zweite Onlinesüchtige ist zwischen 14 und 24 Jahre

„Gut eine halbe Million Menschen zwischen 14 und 64 Jahren in Deutschland sind abhängig von Computerspielen und Internet“, sagt Mortler bei der Vorlage des Drogen- und Suchtberichts 2016. Besonders gefährdet seien die Jüngeren. Von den 560.000 Online-Süchtigen seien etwa 250.000 zwischen 14 und 24 Jahre alt. „Allein 16 Prozent der Neuntklässler und vier Prozent der Neuntklässlerinnen verbringen 4,5 Stunden und mehr am Tag am Computer.“ Während Jungs vor allem Rollen- und Strategiespiele wie „World of Warcraft“, „Call of Duty“ oder „MineZone“ nutzen, seien es bei den Mädchen die sozialen Netzwerke.

Mortler sieht in der zu intensiven Internetnutzung die „Schattenseite“ der Digitalisierung, in der nicht der Mensch den Computer, sondern der Computer den Menschen steuere. „Es besteht die Gefahr, dass insbesondere Jugendliche vereinsamen und verwahrlosen.“ Konkrete Ideen zur Prävention will Mortler bis Herbst entwickeln lassen. Sie hat das Thema zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit erklärt.

Primär stünden Eltern in der Verantwortung, ihren Kindern zu helfen, meint Mortler. Auf die Frage, wie Jugendliche wieder zur gesunden Nutzung finden könnten, antwortet sie: „Der erhobene Zeigefinger bringt nichts.“ Wichtig sei es, sich mit Kindern über die Internetnutzung auseinanderzusetzen und Zeitgrenzen zu setzen. „Kinder brauchen Regeln, wann, wie lange und was sie mit dem Internet machen. Wer dies nicht einhält, für den sollte das Handy auch mal verschwinden.“ Mortler stellt auch klar, sie wolle weder das Internet noch Handys verteufeln: „Ich will die Digitalisierung, aber ich will, dass sie dem Menschen nützt. Die Dosis macht das Gift. Ich rate allen, auf ihre Online-Offline-Balance zu achten.“

Fortschritte gibt es unterdessen bei der Alltagsdroge Alkohol. Der Pro-Kopf-Verbrauch des legalen Suchtmittels ist seit 1980 um fast drei Liter auf 9,7 Liter zurückgegangen. Auch das Phänomen des exzessiven Rauschtrinkens bei Jugendlichen habe abgenommen. Und dennoch stellt Mortler dies noch nicht zufrieden. „Trotz sinkender Zahlen ist der Alkoholkonsum noch zu hoch.“ Laut Schätzungen sterben in Deutschland pro Jahr zwischen 42.000 und 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums. Fast jeder Erwachsene trinke gelegentlich Alkohol, jeder siebte in gesundheitsriskanten Mengen.

Zudem kämen etwa 2000 Babys jährlich mit schweren Störungen auf die Welt, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol getrunken hätten, so Mortler. Bei den betroffenen Kindern mit dem besonders schweren Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) sei die Hirnentwicklung so stark beeinträchtigt, dass sie ein Leben lang auf Hilfe angewiesen bleiben. Obwohl Alkohol schwerwiegende Folgen für das Ungeborene haben kann, trinken 14 Prozent der Schwangeren gelegentlich Alkohol, heißt es in dem Bericht.

„Viel zu häufig werden die Risiken des Alkohols verharmlost“, meint Mortler. Hier müsse ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden. So appelliert die Drogenbeauftragte zum Start der Fußball-Europameisterschaft, beim gemeinsamen Spieleschauen auch mal auf Alkohol zu verzichten und Jugendlichen ein gutes Vorbild zu sein: „Es ist cool, auch mal Nein zu sagen.“ Unzufrieden ist Mortler auch damit, dass beim Verkauf von Alkohol der Jugendschutz nicht konsequent eingehalten wird.

Auch beim Rauchen gibt es Besserung. So greifen nur noch 7,8 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen zur Zigarette – vor 15 Jahren waren es noch 27 Prozent. Dies ist ein historischer Tiefstand. Dennoch sterben jedes Jahr rund 120.000 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Mortler setzt auf das Verbot vermeintlich harmloser E-Zigaretten und E-Shishas für Minderjährige, aber auch auf die abschreckende Wirkung der Schockbilder auf Zigarettenpackungen und das Außenwerbeverbot. Dabei führt der Staat hier einen Kampf David gegen Goliath. So investiert die Tabakindustrie jährlich rund 200 Millionen Euro, um neue Kunden zu gewinnen. Dagegen ist der Präventionsetat der Drogenbeauftragten mit insgesamt 8,7 Millionen Euro für alle Drogen und Süchte geradezu lächerlich.

An den Folgen illegaler Drogen sind im vergangenen Jahr 1126 Menschen gestorben – und damit 18,8 Prozent mehr als 2014. Insbesondere im Kampf gegen die Partydroge Crystal Meth will Mortler 500.000 Euro mehr für Aufklärungskampagnen ausgeben. Die Substanz verursache schwerwiegende körperliche und psychische Folgen und sei insbesondere in den Grenzregionen zu Tschechien und in Berlin eine Herausforderung. Gleichzeitig setzt sich Mortler dafür ein, dass Schwerkranke Cannabis als Medizin legal erhalten sollen. Ein Gesetzentwurf dazu ist in Arbeit.

Die Drogenbeauftragte sieht ihre wichtigste Aufgabe darin, das Wohlergehen und die Gesundheit in den Mittelpunkt zu stellen. Fast pastoral sagte Mortler: „Dazu gehört es, alle Menschen dazu zu bringen, achtsamer mit ihrer Gesundheit umzugehen und Drogenkonsum zu vermeiden. Und dennoch Drogenkonsumenten zu helfen und ihnen unsere Achtsamkeit zu geben.“