Berlin. Patientenschützer fordern mit Acht-Punkte-Plan strengere Überwachung und mehr Transparenz

    Ob sie sich in guten Händen befinden, bekommen viele Schwerstkranke oft gar nicht mit. Manche liegen im Wachkoma. Werden mit Beatmungsgeräten am Leben gehalten. Hängen zu Hause an Maschinen, die eigentlich von Fachkräften rund um die Uhr bedient werden müssten. Doch statt einer ganztägigen Betreuung, kommen nur zwei- bis dreimal täglich Hilfskräfte vorbei. Dies ist nicht nur lebensgefährlich für die Patienten, sondern zugleich ein lukratives Geschäft für Kriminelle.

    Ein Pflegedienst verlangt wiederum von einem Patienten, als „Eigenanteil“ zehn Prozent seiner Rechnungen zu bezahlen, obwohl alle Leistungen komplett von der Krankenkasse übernommen werden. Andere Pflegedienste stellen ihre Mitarbeiter als Selbstständige ein, um dadurch Sozialabgaben zu sparen.

    Krankenkassen schätzen Schaden auf rund eine Milliarde Euro

    Die Formen des Betrugs mit Pflegebedürftigen in Deutschland sind vielfältig – und finden oft unbemerkt im Verborgenen statt. Zuletzt erschütterten die Praktiken eines russischen ambulanten Pflegedienstes das Vertrauen der Bevölkerung.

    Statistiken über die Schadenshöhe durch Betrug in der Pflege gibt es nicht. Die gesetzlichen Krankenkassen vermuten, dass sie jährlich um rund eine Milliarde Euro geprellt werden. Die Dunkelziffer ist jedenfalls hoch.

    „Organisierter Betrug in der Pflege ist nicht neu“, mahnt der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Umso wichtiger sei es, dass endlich wirkungsvoll dagegen vorgegangen werde. „Bund und Länder haben bislang keine einheitlichen, wirksamen Konsequenzen gezogen, um Abrechnungsbetrug zu bekämpfen“, sagte Brysch. Es fehle an effektiven Kontrollen und Maßnahmen zur Qualitätssicherung.

    Zu den Tatbeteiligten könnten Pflegedienste, Ärzte, Apotheker, Sanitätshäuser, aber auch Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen zählen. Menschen, die vorgeben, Leistungen zu erbringen, ohne sie auszuführen oder die Dienste doppelt abrechnen. Gerade an den Schnittstellen zwischen den Kranken- und Pflegeversicherungen würde es Spielraum für Schummeleien geben.

    Konkret fordert die Stiftung Patientenschutz in einem Acht-Punkte-Plan Schritte zur Bekämpfung von Abrechnungsbetrug. Diese könnten im Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III) umgesetzt werden, das als Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministers Hermann Gröhe (CDU) vorliege. „Es muss zu einem Betrugsbekämpfungsgesetz werden“, forderte Brysch.

    Die Vorschläge der Stiftung Patientenschutz sind darauf ausgerichtet, durch mehr Transparenz und Kontrolle Missbrauch zu verhindern. So sollten Patienten, die sowohl Leistungen von Kranken- und Pflegekassen erhalten, unter einer einheitlichen Patientennummer geführt werden. Damit ließen sich Doppelabrechnungen vermeiden. Pflegeleistungen, die heute teils noch handschriftlich aufgenommen werden, sollten digital erfasst und elektronisch abgerechnet werden. Dadurch könnten Daten besser ausgewertet und auf Auffälligkeiten hin überprüft werden, argumentiert Brysch.

    Krankenkassen müssten die Möglichkeiten erhalten, regelmäßig die Qualität in der häuslichen Krankenpflege zu überprüfen. Für Wohngemeinschaften, in denen unter einem Dach mehrere Patienten betreut werden, sollte es eine Meldepflicht geben. Aber auch bei der Gründung neuer Pflegedienste müsse es eine Pflicht geben, sich bei den Aufsichtsbehörden anzumelden, wie dies das Bundesland Nordrhein-Westfalen von Ende Juni an einführe.

    Wer Korruption oder Betrug erkennt, sollte dies zudem als „Whistleblower“ anonym melden können. Gleichzeitig schlägt Brysch vor, dass Täter, die bei Abrechnungen betrogen haben, nach dem Vorbild des Steuerstrafrechts straffrei bleiben sollen, sofern sie sich selbst anzeigen. „Damit könnte man an Fälle kommen, die sonst nicht auffällig geworden wären.“

    In allen Bundesländern sollten zudem Staatsanwälte eingesetzt werden, die sich gezielt um Gesundheitsdelikte kümmerten. In der Praxis passiere nach Anzeigen oft lange nichts, berichtet Brysch seine Erfahrungen im Alltag. Pro Jahr stelle der Vorsitzende für Schwerstpflegebedürftige, die sich an seine Stiftung wenden, etwa ein halbes Dutzend Strafanzeigen. Doch zu Verurteilungen kommt es in der Regel nicht, so Brysch: „Wir brauchen hier Ermittlungsdruck.“

    Patientenbeauftragter fordert mehr Kontrollen in Wohngemeinschaften

    Auch das Bundesgesundheitsministerium hat den Handlungsbedarf erkannt und sei nach dem jüngsten Pflegeskandal tätig geworden, sagte eine Sprecherin. So sollen künftig die Leistungen der häuslichen Krankenpflege stärker überprüft und die Zulassung von ambulanten Pflegediensten strenger kontrolliert werden. Auch die Kontrollmechanismen an sich kämen auf den Prüfstand. Dies sei auch Thema der nächsten Gesundheitsministerkonferenz.

    Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, sieht in den Vorschlägen interessante Hinweise. „Wir brauchen weitere Kontrollmöglichkeiten in der Pflege – gerade bei der häuslichen Krankenpflege“, sagte er dieser Zeitung. „Wir müssen uns diejenigen ambulanten Pflegeangebote genau anschauen, die zwar Wohngemeinschaften genannt werden, faktisch aber ein vollstationäres Angebot darstellen.“ Sie müssten wie vollstationäre Pflegeeinrichtungen mit den entsprechenden Kontrollmöglichkeiten behandelt werden. „Jeder Euro, der durch Abrechnungsbetrug in der Pflege zu Unrecht gezahlt wird, ist ein Euro zu viel.“