Ankara/Berlin.

Es ist bereits ihr fünfter Besuch in der Türkei seit Oktober 2015, eine ungewöhnliche Reisefrequenz. Oft gab es für Angela Merkel (CDU) einen unverfänglichen Anlass, auch heute in Istanbul mit einem humanitären Gipfel der Vereinten Nationen. In Wahrheit spielt die Musik am Rande des Gipfels. Die Kanzlerin will wissen, ob die türkische Regierung den Flüchtlingsvertrag mit der EU einhält, ob noch gilt, was mit Ministerpräsident Ahmed Davutoglu verabredet war. Dieser war Merkels wichtigster Gesprächspartner, aber ist seit gestern kein Machtfaktor mehr.

Scheitert der Flüchtlingsvertrag, scheitert Merkel? Viele warten darauf, vielleicht nicht Präsident Recep Tayyip Erdogan, den sie heute trifft, eher schon ihre Kritiker daheim. Das irritiert die Kanzlerin, wie sie in der „FAS“ gestand. Selten war die deutsche Öffentlichkeit über Erdogan so befremdet wie in diesen Tagen. Und nie war die Abhängigkeit von der Türkei größer als im Zuge der Flüchtlingskrise. Deswegen beteuerte die Kanzlerin im Vorfeld der Visite – zum Selbstschutz –, sie wolle kein Thema aussparen, das tue sie grundsätzlich nicht. Daheim in Berlin, gerade in Merkels eigenem Lager, in den Unionsparteien, wird die Reise genau verfolgt. Manchmal beobachte sie „fast so etwas wie eine Freude am Scheitern“. So beginnt für Merkel wieder einmal eine atemberaubende Woche, nach der Türkei kommt eine Kabinettsklausur, danach der G-7-Gipfel in Japan. Merkel ist nonstop gefordert.

CSU-Chef Horst Seehofer fühlte sich derweil gestern sogleich „indirekt angesprochen“. Sonntags hält er sich gern die Medien vom Hals – diesmal machte er eine Ausnahme. Freude am Scheitern? „Absolut falsch.“ Bezüglich der CSU und seiner Person sei es „eine Fehleinschätzung“, sagte er der ARD.

Am Abend landete Merkels Flugzeug in Istanbul. Mit Erdogan trifft sie heute einen alten Bekannten, „ich kenne ihn seit vielen Jahren.“ Wenn sie auch über seine Machtspiele hinwegsieht, weiß Merkel natürlich, was gespielt wird: Erdogan will mehr Macht, strebt eine Präsidialdemokratie an. Seine Partei, die islamisch-konservative AKP, ist ihm dabei Mittel zum Zweck, die Quelle seiner Macht, wie sich am Vorabend von Merkels Besuch zeigt.

Da trat ein Sonderparteitag zusammen, um mit Binali Yildirim einen neuen AKP-Chef und damit de facto den nächsten Ministerpräsidenten zu bestimmen, einen Mann, der zu Erdogan „unser Anführer“ sagt. Beim bisherigen Amtsinhaber Davutoglu vermisste der Präsident zuletzt solche Ergebenheitsadressen. Er war ihm zu eigenmächtig geworden – und wurde geschasst.

Ebenfalls auf Erdogans Betreiben hatte das türkische Parlament am Freitag die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben. Gegen sie ermittelt die Staatsanwaltschaft. Auffällig: gegen viele Mitglieder der prokurdischen linken HDP. Falls die Parlamentarier verurteilt werden, drohen ihnen langjährige Haftstrafen. Die so frei werdenden Sitze müssten gemäß Verfassung durch Nachwahlen neu besetzt werden. Erdogan könnte so ein lang gehegtes Ziel erreichen: Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, um danach die Verfassung zu ändern und sich eine Präsidialdemokratie zu zimmern.

Seine Macht würde dann auch verfassungsrechtlich unanfechtbar werden. Er will keine Repräsentationsfigur sein wie Joachim Gauck, ihm reicht nicht die Macht des Wortes. Erdogan will das letzte Wort haben. Wie die Präsidenten der USA, von Frankreich oder Russland.

Dem starken Mann am Bosporus will Merkel zwar kritische Fragen – etwa nach der jäh abgebrochenen Aussöhnung mit den Kurden – nicht ersparen. Indes gilt ihre volle Konzentration dem Abkommen über Flüchtlinge. Sie beobachte genau, „wie die Türkei mit ihren Zusagen umgeht.“ Bis jetzt setze sie die verlässlich um, so die Kanzlerin. Zum Stand der Dinge gehört, dass die Kanzlerin die Türkei in jedem Fall und allein deshalb bräuchte, um bei den Fluchtursachen anzusetzen, um die Migranten aus Syrien heimatnah aufzunehmen und zu versorgen. Die Türkei ist zusätzlich noch wichtiger geworden, weil sich die Europäer schwer tun, die Flüchtlinge untereinander zu verteilen. Da war es doch eine große Erleichterung, als die Türkei sich verpflichtete, die Menschen an der Ausreise zu hindern und darüber hinaus Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen.

Der Türkei-Deal war die Alternative zur Politik von Grenzschließungen. Die Kanzlerin kämpft für das Abkommen, „ich will etwas zum Gelingen beitragen.“ Insofern ist diese Reise für sie auch ein Prozess der Selbstvergewisserung. Die Flüchtlingsfrage steht im Mittelpunkt. Anders gesagt: Merkels Erfolg. Ihm ordnet sie alles andere unter. Große Distanz, gar das Einfrieren der Kooperation mit der Türkei kommt nicht infrage. Zu groß ist die Abhängigkeit von Erdogan. Sie hört es nicht gern. „Sie können es auch einfach die Notwendigkeit zum Interessenausgleich nennen“, rät sie und redet sich die Pflege der Kontakte zu Erdogan schön: „Es ist immer besser, wenn man miteinander spricht als übereinander.“

Für Seehofer ist die Abhängigkeit von der Türkei „der Grundfehler“

In der Tat hat auch Erdogan Interessen. Der Realitätstest kommt im Herbst. Dann erwartet er von der EU die Visafreiheit für die Türken. Die EU-Institutionen und die Regierung in Istanbul streiten darüber, ob die Türkei alle Bedingungen dafür erfüllt hat. Ob die Türken es überhaupt anstreben?

Bloß: Verweigert die EU die Visafreiheit, fühlt sich Erdogan womöglich nicht an Zusagen gebunden. Wird er dann die „Menschenschlepper“ wieder aktiv werden lassen? Für die CSU wäre es die Bestätigung ihrer Befürchtungen.

Seehofer hält den Türkei-Deal für schwierig, „weil man Dinge miteinander vermengt hat bei diesem Deal, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.“ Man habe sich nicht allein auf die Frage der Flüchtlinge konzentriert, sondern den EU-Beitritt der Türkei sowie die Visafreiheit damit verbunden. Und damit sei man in eine Abhängigkeit von der türkischen Regierung geraten, so Seehofer. „Das ist der Grundfehler.“ Er sagt „man“. Er meint Merkel.