Die SPD und die Kanzlerkandidatenfrage. Die Diskussion ist ein Symptom dafür, dass die Sozialdemokraten nicht mit sich im Reinen sind. Sie sind verwirrt. Wäre die SPD ein Mensch, müsste sie auf die Couch. Beim Psychiater.

Drei Wortmeldungen von diesem Pfingstwochenende, an dem nicht gerade die Erleuchtung über die Sozialdemokratie gekommen ist: Es begann am Freitag damit, dass Parteichef Sigmar Gabriel der CDU-Kanzlerin eine „180-Grad-Wende“ in der Flüchtlingspolitik vorhielt. Der Vorwurf ist berechtigt. Allerdings kommt er von dem Mann, der Anfang des Jahres eine „Reduktion der Geschwindigkeit der Zuwanderung im laufenden Jahr“ und in einem Brief „Schutzmaßnahmen der Staaten der Europäischen Union an den eigenen europäischen Binnen­grenzen“ angemahnt hatte. Merkel hat getan, was alle von ihr erwartet haben, auch die SPD.

Am Pfingstsonntag nun nannte Gabriels Stellvertreter Torsten Schäfer-Gümbel es einen Fehler, „dass die SPD beim Abschluss des Koalitions­vertrags mit der Union nicht auf mehr Steuergerechtigkeit gedrungen habe“. Die SPD müsse zeigen, „dass sie ohne Wenn und Aber Schutzmacht der normalen Arbeitnehmer ist“. Da kann man ihm nur zurufen: Ihr sitzt in der Regierung, um ohne Wenn und Aber eine Politik für die kleinen Leute zu machen. Ob Flüchtlingspolitik oder Steuergerechtigkeit, die SPD besorgt beides: Regieren und Opponieren. Das ist die Neurose der SPD. Kein Wunder, dass keiner als Kanzlerkandidat an­treten will – auch eine Erkenntnis vom Wochenende. Die Kandidatur liegt auf der Straße, achtlos liegen gelassen wie ein alter Hut, den keiner aufheben mag. Andrea Nahles und Martin Schulz schauen auf ihre Schuhspitzen; hoffentlich übersieht man sie. Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz überlassen dem SPD-Chef den Vortritt. Das klingt unschuldig, kann aber wiederum sehr tricky sein. Sie lassen offen, ob Gabriel es machen oder ein anderer erst nach dem Vorsitz und dann nach der Kandidatur greifen soll. Keiner will – nach den Erfahrungen von Peer Steinbrück 2013 – Kanzlerkandidat unter einem SPD-Chef Sigmar Gabriel sein. Zulässig ist die Lesart allemal.

Gerade hatte der Vorsitzende sich für „mehrere Bewerber“ starkgemacht und dafür, die K-Frage von den Mitgliedern entscheiden zu lassen. Man kann sich Niederlagen auch selbst beibringen. Jedenfalls muss der SPD-Chef jetzt Schlagzeilen wie „Scholz bügelt Gabriel-Vorstoß ab“ lesen. Das stärkt nicht unbedingt seine Autorität.

Offenkundig hat Gabriel die Stimmung in der engeren Führung verkannt. Einen Mitgliederentscheid ins Spiel zu bringen macht nur Sinn, wenn man von mehreren Interessenten weiß und sie aus der Reserve locken will. Früher wäre der Entscheid ein Schlichtungsvorschlag gewesen – vor lauter Bewerbern. Heute drückt er die Sehnsucht nach Spannung aus, nach einer Partei, die gern auf sich neugierig machen würde, aber es nicht mehr kann. Am meisten dürfte sich Hannelore Kraft bestätigt fühlen. Die NRW-Ministerpräsidentin war bereits 2013 gegen die große Koalition und hatte früh erklärt, nie, nie, nie nach Berlin gehen zu wollen. Die SPD interpretiert das Sankt-Florians-Prinzip für sich neu: Heiliger Sankt Florian, verschone mich, überlass anderen die K-Frage.

Gabriel hat mit seinem Interview Rätsel aufgegeben, wo Orientierung gutgetan hätte. SPD-Vize Ralf Stegner hat recht. Die SPD sollte sich nicht eineinhalb Jahre lang mit der K-Frage befassen („das hilft uns nicht weiter“). Der SPD-Chef hat es in der Hand, das zu vermeiden. Die SPD braucht keinen noch größeren Chor, der „Vorsicht an der Bahnsteigkante“ ruft. Sie braucht einen, der auf den Zug 2017 aufspringt.