Berlin .

Über diese Zahl wird seit Monaten wild spekuliert. Sie dürfte „ziemlich klein sein“, beteuert ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Die Rede ist von den Migranten, die im Zuge der Flüchtlingskrise in Deutschland eingereist, aber untergetaucht, nie registriert worden sind. Die Illegalen. Aber eigentlich geht es um mehr: Wie viele Flüchtlinge sind überhaupt gekommen? Und welche Kosten verursachen sie?

Bis zum Sommer, womöglich schon Anfang Juli, will der Staat Klarheit darüber haben, wer weitergereist, wer geblieben ist, wer sich wo aufhält. „Wichtig ist, dass wir wissen, wer in unser Land gekommen ist“, sagte der Vorsitzende des Innenausschusses, Ansgar Heveling (CDU), dem Abendblatt. Waren es 2015 doch 1,1 Millionen Menschen? Oder weniger, viel weniger?

Fast ein Jahr nach dem Ausbruch der Flüchtlingskrise will der Staat den zeitweiligen Kontrollverlust beenden, mehr Ordnung wagen, eine Basis schaffen, um die Integration und ihre Kosten besser abschätzen zu können. Bei den Kosten herrschen bisher Wildwuchs, Unwissen und Intransparenz. Die Nachforschungen des Recherchezentrums Correctiv.org bestätigen die Fundamentalkritik des Präsidenten des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel: „Niemand kann die Kosten für die Flüchtlingsaufnahme und -integration derzeit verlässlich beziffern.“

Chaotischer Flüchtlingssommer2015 rächt sich bis heute

Kontrollverlust – die Sorge begleitete die Regierung vom ersten Tag an. Erst Ende Dezember/Anfang Januar begann man, Neuankömmlinge grenznah elektronisch zu erfassen. „Seitdem kommen so gut wir überhaupt keine ‚unregistrierten‘ Personen mehr dazu“, erklärt das Innenministerium. Seit Oktober 2015 sind 150 mobile Teams des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterwegs, um vor Ort Daten von Asylantragsstellern aufzunehmen. Sie legten 355.000 solcher „Vorakten“ an.

Bis heute rächt sich der chaotische Flüchtlingssommer 2015. Damals wurde nur die Zahl der Köpfe gezählt, die Menschen aber nicht personenbezogen erfasst. So stand man bald vor dem Dilemma, keine Mehrfachzählungen ausschließen zu können; und nicht zu wissen, wer wirklich hier geblieben war.

Als „Bild“ Anfang April meldete, es gebe eine halbe Million unregistrierte Flüchtlinge, wiegelte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ab: „Dass hier 500.000 leben sollten, die kein Geld wollen, die kein Verfahren wollen, das halte ich für absurd.“ Den Beweis kann er erst liefern, wenn der Ankunftsnachweis tatsächlich vorliegt.

Mit ihm wird jeder Flüchtling mit seinen biometrischen Daten erfasst. Seit Februar wird das Erfassungssystem – in vier Wellen – eingeführt. Berlin, das Saarland und Nordrhein-Westfalen gingen voran. In der vierten Welle folgen im Mai Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Bis Ende April sind erst 30.000 solcher Ausweise ausgegeben worden, ihre Zahl wird rapide steigen, sobald das System bundesweit im Betrieb ist. Die Migranten müssen sich registrieren lassen, wenn sie Asyl beantragen und Sozialhilfe bekommen wollen. Laut Heveling liegt die Zahl der Registrierungen pro Monat erkennbar über der Zahl der neu eingereisten Asylsuchenden. Das System läuft wie gedacht an. „Es ist gut, dass wir bald über ein umfassendes Kerndatensystem verfügen, auf das alle Behörden zugreifen können.“ Im Sommer will man soweit sein. Dann sollen alle registriert sein. Dann kann man die Mehrfachrechnungen herausnehmen – und nebenbei sicherstellen, dass niemand Sozialleistungen doppelt kassiert. Dann kann man auch besser einschätzen, wie viele sich nicht registrieren ließen, sei es, weil sie längst ins benachbarte Ausland weitergezogen (oder zurückgekehrt/abgeschoben) sind; sei es, weil sie kriminelle Absichten verfolgen. Nach neuesten Zahlen des Bundeskriminalamtes sind seit Beginn der Flüchtlingsbewegung 369 Hinweise auf Terrorverdächtige eingegangen.

Manche Menschen haben sich womöglich aus Angst vor Ablehnung nicht registrieren lassen. Schon vor dem Exodus aus Syrien, der im Frühsommer 2015 einsetzte, schätzten Flüchtlingsorganisationen die Zahl der „Illegalen“ in Deutschland auf mehrere Hunderttausend. Sie ist mit der Flüchtlingskrise eher größer geworden. Diese Menschen sind unter uns, führen, ohne Arbeitserlaubnis, ohne Sozialversicherung, „ein Leben auf der Rasierklinge“, wie der frühere NRW-Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) sagt.

Von der Anzahl der Schutzsuchenden, die verpflegt werden müssen, hängen natürlich die Kosten für Bund, Länder und Kommunen ab. Die Versorgung von Flüchtlingen ist Ländersache. Jedes Bundesland hat sein eigenes System. Viele, wie Niedersachsen oder Brandenburg, übertragen die Aufgabe der Flüchtlingsunterbringung an die Landkreise und kreisfreien Städte, manche direkt an die Kommunen, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen. Bayern setzt auf die Bezirksregierungen. Doch viele Kommunen wissen nicht, wie hoch der Aufwand ist – Heimbetreiber und Zulieferer nutzen das aus, treiben die Preise in die Höhe, wie das spendenfinanzierte Recherchezentrum Correctiv.org herausfand. Die Journalisten fragten alle 295 Landkreise, 107 kreisfreie Städte oder andere zuständige Stellen in Deutschland nach den Kosten für die Versorgung der Asylsuchenden. Ergebnis: Die Spanne ist enorm. Während man in Saarlouis im Schnitt 288 Euro pro Monat und Flüchtling zahlt, gibt die Stadt Leipzig 388 Euro aus, Bochum 1250 Euro, Leverkusen 1666 Euro, der Landkreis Lörrach am Bodensee zahlt 1212 Euro und der Kreis Waldshut – direkt daneben – nur 1037 Euro.

Der Staat soll den Bürgern reinen Wein einschenken: die Kosten

Einige Unterschiede lassen sich relativ leicht erklären. In einer Großstadt wie Hamburg sind die Mieten hoch und die Unterhaltskosten für einen Menschen teurer als im nordhessischen Bad Wildungen, einer kleinen Kurstadt mit Leerstand. Hamburg zahlt rund 1300 Euro, Bad Wildungen 500. Aber das allein begründet nicht alle Unterschiede.

Die Daten sind Durchschnittswerte. In Wahrheit zahlt jede Kommune in einem Landkreis für jede Unterkunft einen anderen Preis. Manche mieten Wohnungen an – die einen zur ortsüblichen Miete, die anderen mit enormen „Flüchtlingsaufschlägen“. Manche stellen Container auf, buchen Hotelbetten, rüsten leer stehende Pensionen um.

Manche betreiben die Unterkünfte selbst, andere beauftragen damit Unternehmen. Oft zahlen Städte und Kreise Tagessätze. Auch die fragten die Journalisten ab. Die Spanne der Beträge lag zwischen drei und 50 Euro pro Flüchtling und Tag – also um ein Vielfaches auseinander. Indes weigerten sich die allermeisten, Angaben zu machen. Was man Vermietern und Betreibern zahle, sei geheim, Geschäftsgeheimnis, argumentierten die Verwaltungen. Das macht einen Überblick fast unmöglich. Und erleichtert Geschäftemachern, Verwaltungen auszunehmen.

„Dieser Zustand ist nicht akzeptabel. Die Steuerzahler haben ein Recht auf Kostentransparenz – sie ist Grundlage für eine sparsame und wirtschaftliche Verwendung unseres Steuergelds“, rügt Holznagel. Bund, Länder und Kommunen müssten den Bürgern „endlich reinen Wein einschenken“, so der Steuerzahlerbund. „Die Flüchtlingskosten müssen für jede Staatsebene transparent ausgewiesen werden.“