Berlin .

Sigmar Gabriel tut so, als sei nichts gewesen. Am Tag nach den schrägen Rücktrittsgerüchten eröffnet der SPD-Vorsitzende im Willy-Brandt-Haus eine „Gerechtigkeitskonferenz“, ohne auch nur mit einem Wort auf die – offenkundig falschen – Spekulationen um seine Demission einzugehen. Die versammelte SPD-Spitze hat sich am Morgen ja noch einmal demonstrativ um den Vorsitzenden geschart. Das muss reichen. Es reicht dann der Basis aber erstmal nicht. Unter den Zuhörern hätte sich mancher doch ein klärendes Wort vom Parteichef gewünscht, mit anfangs ungewöhnlicher Reserviertheit verfolgt ein Teil des Publikums Gabriels Grundsatzrede.

Aber der Vorsitzende geht darüber hinweg, es geht nicht um ihn, es geht um die bedrohliche Krise seiner Partei. Äußerlich einigermaßen unbeeindruckt von den Spekulationen, hält der SPD-Vorsitzende eine Rede, mit der er die Probleme und strategischen Fehler der Partei schonungslos wie selten benennt – und die Sozialdemokraten mit Blick auf die Bundestagswahlen deutlich nach links rückt. „Es ist ein Alarmsignal, dass nur noch 32 Prozent der Wähler der SPD Kompetenz bei der sozialen Gerechtigkeit zutrauen“, sagt Gabriel.

Dieser Vertrauensverlust sei für die SPD existenziell. Die Konsequenz: Die SPD dürfe sich nicht mit Einzelreformen zufrieden geben, es gehe um den Geltungsanspruch der SPD für soziale Sicherheit. Die soziale Frage sei zurückgekehrt, aber es sei offen, ob die SPD den „Gerechtigkeitshunger“ ausreichend begreife – die Sozialdemokraten würden als „emotional ermüdete Partei im Hamsterrad der Sozialdemokratie“ wahrgenommen. Und: „Wir sind ein bisschen zu viel Staat und zu wenig soziale Bewegung.“

Offensiver, klarer, entschiedener will Gabriel die Partei aufstellen. Als erstes fordert er scharf die Abschaffung jener pauschalen Kapitalertragssteuer, die Ex-Finanzminister Peer Steinbrück eingeführt hatte. Arbeit dürfe nicht mehr stärker besteuert werden als Kapital, mahnt Gabriel: „Wie konnte das eigentlich einer Partei der Sozialdemokratie passieren?“ So geht es weiter. Gleicher Lohn für Männer und Frauen, eine Bürgerversicherung und auskömmliche Renten. Im Alter in Würde zu leben, sei mindestens genauso wichtig wie Generationengerechtigkeit. Konkret wird Gabriel da nicht, aber es ist offenkundig, dass der Vorsitzende im Wahlkampf alles auf die Karte „soziale Gerechtigkeit“ setzen will. „Wer die kleinen Schritte geht, kann die Richtung aus den Augen verlieren“, sagt er selbstkritisch. Das Dilemma der SPD wird erst anschließend deutlich. Gabriel diskutiert auf dem Podium mit der Gebäudereinigerin Susanne Neumann. Die eloquente Frau aus Gelsenkirchen ist vor einer Woche in die SPD eingetreten, aber eigentlich ist sie immer noch enttäuscht. „Wir leiden unter den Reformen von Schröder“, klagt sie über ihre Erfahrung als Niedriglöhnerin. Deshalb wählten viele nicht mehr SPD. Aber nun sinke die Partei ja immer weiter ab. „Und wenn die SPD weg ist, haben wir ja überhaupt nichts mehr.“ Einerseits. Andererseits: Neumann beklagt die Ausweitung der befristeten Jobs, die die SPD einst mitbeschlossen hat und mit der jetzt die Arbeitnehmer gegängelt würden. „Viele Kollegen fragen sich: Warum soll ich die Partei wählen, die mir das eingebrockt hat?“

Gabriel wusste sehr genau, worauf er sich bei dieser Diskussion einlässt, die Betriebsrätin hatte sich erst neulich in einer Talkshow mit SPD-Vize Hannelore Kraft gestritten – und sich von Kraft dann zum Eintritt in die Partei überreden lassen. Der Vorsitzende will diese Abrechnung mit den früheren Reformen, die seine Vorgänger zu verantworten haben, er nimmt sich erkennbar zurück: Die SPD wolle diese Befristungen ja jetzt wieder einschränken, wendet er ein, aber die Union mache da nicht mit.

Neumann entgegnet: „Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“ Da jubeln die Zuhörer so begeistert wie während der gesamten Rede des Vorsitzenden nicht. Die Sehnsucht nach Opposition wird wieder stärker. Gabriel sagt etwas matt, ohne die SPD in der Koalition gäbe es auch keinen Mindestlohn, keine Rente mit 63. Neumann: „Wenn wir rausgehen, dann wäre das Vertrauen bei den Wählern größer.“ Und sie klagt sich weiter durch die von Sozialdemokraten mitverantwortete Reformpolitik, die Rente mit 67, die ärmlichen Altersbezüge oder die Ausdehnung der Leiharbeit. Am Stammtisch oder zu Hause heiße es zu den Sozialdemokraten deshalb nur: „Ihr habt uns runtergefahren.“

Anschließend lässt es Gabriel auch von akademischer Seite auf die SPD einprasseln: Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Michael Fratzscher, beklagt, in Deutschland sei die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen so groß wie in keinem anderen europäischen Land. „Die soziale Marktwirtschaft existiert nicht mehr“.

Dies ist nicht der Tag für die großen Debatten. Gabriel gibt den Ton an, die gesamte SPD-Führung schart sich um ihn. Der Parteivorstand stehe geschlossen zum Vorsitzenden, bekräftigt SPD-Vize Kraft. Das von „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort verbreitete Rücktrittsgerücht sei „dummes Zeug“. Da macht es auch nichts, dass Markwort am Montag noch einmal nachkartet: Der Führungswechsel sei „keineswegs vom Tisch“, behauptet er. Womöglich seien die Informationen über Gabriels Rückzugspläne gezielt über ihn lanciert worden, um einen Machtwechsel noch zu verhindern.