Die politischen Turbulenzen in Ankara, der Rückzug von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bestätigen, dass Europa in der Flüchtlingskrise auf einen schwankenden Partner setzt. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, sieht allerdings keinen Anlass für einen Kurswechsel. Im Interview richtet er eine scharfe Warnung an jene, die Zäune für eine Lösung halten.

Hamburger Abendblatt: Seit einigen Wochen kommen deutlich weniger Flüchtlinge nach Mitteleuropa. Geben Sie Entwarnung, Herr Präsident?

Jean-Claude Juncker: Wir stehen vor einer Kehrtwende. Das Abkommen mit der Türkei zeigt seine Wirkung und die Flüchtlingszahlen sinken deutlich. Mit dem Abkommen legen wir Schleppern das Handwerk und bewahren Flüchtlinge davor, auf illegalen Routen ihr Leben zu riskieren. Stattdessen eröffnen wir ihnen legale Wege nach Europa. Dadurch können wir die Ankunft der Flüchtlinge viel besser steuern. Völlige Entwarnung kann es erst dann geben, wenn die Flüchtlingszahlen nachhaltig niedrig bleiben. Die Abmachung mit der Türkei hat uns Handlungsspielraum eröffnet, um – ebenso wie in der Finanzkrise – Lehren aus der Krise zu ziehen und mittelfristig ein insgesamt faireres und effizienteres Asylsystem aufzubauen. Die Kommission hat deshalb diese Woche eine umfassende Reform des Dublin-Systems vorgeschlagen …

… die was bewirken soll?

Juncker: Wir wollen unter anderem sicherstellen, dass die Flüchtlinge grundsätzlich solidarischer zwischen den Mitgliedstaaten verteilt werden. Es bleibt zwar dabei, dass zunächst das EU-Land, auf dessen Boden der Flüchtling ankommt, die Verantwortung übernimmt. Wenn allerdings eine gewisse Schwelle überschritten ist und ein Mitgliedstaat – gemessen an seiner Größe und seinem relativen Wohlstand – einem unverhältnismäßigen Druck ausgesetzt ist, greift automatisch ein Fairness-Mechanismus, der die Flüchtlinge auf die anderen Länder verteilt. Es ist eine Frage der Solidarität, dass nicht allein die Position auf der Landkarte darüber bestimmen darf, wie viele Flüchtlinge ein Land letztlich aufnimmt.

In Wahrheit ist es der mazedonische Zaun, der die Flüchtlinge abhält. Europa gibt beim Krisenmanagement ein trauriges Bild ab …

Juncker: Wenn ich an den von Ihnen erwähnten Zaun denke, fallen mir zuerst die Bilder aus Idomeni ein, wo Menschen auf der Suche nach Zuflucht mitten in Europa strandeten. Das ist nicht meine Vorstellung von Europa. Ich teile nicht die Einschätzung einiger, dass dieser Zaun – oder die Errichtung von Zäunen generell in Europa – irgendetwas zur langfristig tragbaren Lösung der Flüchtlingskrise beitragen kann. Zäune mögen Flüchtlinge am Weiterziehen hindern, aber kein Zaun und keine Mauer ist hoch genug, um diese Menschen davor abzuschrecken, nach Europa zu kommen, wenn sie vor Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern fliehen. Wir können diese Krise nur meistern, wenn wir unsere Kräfte bündeln und bei den Ursachen ansetzen. Da wir den Konflikt in Syrien nicht allein lösen können, müssen wir mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten. Genau das tun wir mit der Türkei; und die Flüchtlingszahlen seit dem Inkrafttreten des Abkommens sprechen für sich: Allein in den ersten drei Wochen ging die Zahl der Flüchtlinge um 80 Prozent zurück.

Die Kommission hat Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger empfohlen, obwohl noch gar nicht alle Voraussetzungen erfüllt sind. Haben Sie sich abhängig gemacht von Ankara?

Juncker: Wir haben dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten empfohlen, türkischen Staatsbürgern visafreies Reisen zu gewähren – wenn die Türkei die noch ausstehenden Zielvorgaben des Fahrplans für die Visa-Liberalisierung so schnell wie möglich erfüllt, so wie sie es bei unserem gemeinsamen Gipfel am 18. März zugesagt hat. Das ist konsequent. Denn damit würdigen wir die bemerkenswerten Fortschritte, welche die Türkei in den vergangenen Wochen gemacht hat, indem sie etwa ihren Arbeitsmarkt für nicht-syrische Flüchtlinge geöffnet hat. Und wir erfüllen gleichzeitig unseren Teil der Abmachung. Die Kommission ebnet den Weg dafür, dass die Visa-Pflicht bis Ende Juni aufgehoben werden kann. Wir haben unser grünes Licht allerdings nur unter der Auflage gegeben, dass die Türkei ihrerseits alle noch offenen Punkte zügig abarbeitet …

… woran nicht alle glauben.

Juncker: Wenn die türkische Regierung mit der Geschwindigkeit weiterarbeitet, die sie in den vergangenen Wochen an den Tag gelegt hat, sollte es keinen Grund für Zweifel geben. Es ist natürlich auch klar, dass Visa-Freiheit keine Einbahnstraße ist: Sie kann jederzeit ausgesetzt werden, wenn die Mitgliedstaaten entsprechende Umstände geltend machen. Die Kommission hat übrigens vorgeschlagen, das Verfahren zur Suspendierung der Visa-Freiheit zu verschärfen, sodass es schneller und unbürokratischer möglich sein wird, die Visa-Freiheit aufzuheben, wenn Mitgliedstaaten oder die Kommission den Mechanismus auslösen. Ich greife hier übrigens ausdrücklich den deutsch-französischen Vorschlag auf.

Was ändert sich mit dem Rückzug des türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu, dem die Europäer mehr vertrauen als Präsident Erdogan?

Junker: Wir haben mit der türkischen Regierung verhandelt. Wir haben das Wort der türkischen Regierung und wir werden weiterhin mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten.

Österreich setzt klare Signale zur Begrenzung des Flüchtlingszustroms – trotzdem hat der Bewerber der rechtspopulistischen FPÖ den ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl gewonnen. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Juncker: Was wir in Österreich beobachten, sehen wir leider auch in einigen anderen europäischen Ländern, in denen Parteien mit den Ängsten der Menschen spielen. Die Rechtspopulisten suggerieren, dass aller Ungemach verschwindet, wenn man sich nur auf die nationale Perspektive beschränkt. Das mag auf den ersten Blick beruhigend wirken – führt aber in Zeiten der Globalisierung nicht zum Ziel. Denn kein Mitgliedstaat allein hat genügend politisches wie wirtschaftliches Gewicht, um sich in einer Welt zu behaupten, die ansonsten immer enger zusammenrückt. Mit Sorge sehe ich auch, dass einige andere Politiker in ihrem Wunsch, die Gunst der Wähler zu erheischen, dumpfen Sprüchen nacheifern. Das
ist brandgefährlich. Denn dieses
Verhalten macht diese Rechtspopulisten erst salonfähig und verstellt darüber hinaus den Blick auf die Tatsachen. In der Globalisierung ist Europa nicht das Problem, sondern die Lösung.

Wien droht, den Brennerpass dichtzumachen …

Juncker: Es wäre eine politische Katastrophe, den Brenner zu schließen. Denn der Pass ist ein Verkehrsknotenpunkt und damit in jeder Hinsicht eine
Verbindung zwischen Nord- und Südeuropa. Alles, was den Brenner blockieren würde, hätte deshalb nicht nur
gravierende wirtschaftliche, sondern vor allem auch schwere politische Konsequenzen. Deshalb hoffe ich doch sehr, dass sich beide Seiten bei aller Rhetorik am Ende ihrer Verantwortung bewusst werden. Als Kommission werden wir jedenfalls alles in unserer Macht stehende dafür tun, dass die Menschen in Europa weiterhin die Freiheit genießen können, über Grenzen hinweg zu reisen, zu handeln und zu leben. Ich werde nicht aufhören, mit großem Nachdruck für einen offenen Brenner einzutreten.