London.

Die Regional- und Kommunalwahlen in Großbritannien sind für die Labour-Partei in Teilen besser verlaufen als erwartet. Zwar gingen einige Dutzend Mandate verloren, doch Experten hatten sogar mit hundert oder mehr gerechnet. Und dann London! Dort konnte sich Sadiq Khan, ein Muslim pakistanischer Abstammung, gegen den schwerreichen Konservativen Zac Goldsmith durchsetzen. Khan erhielt nach Auszählung fast aller Erststimmen 44 Prozent, Goldsmith nur 35. Der populäre konservative Bürgermeister Boris Johnson war nach acht Jahren nicht mehr angetreten.

Khan, der künftige Bürgermeister von London, dürfte seinen Sieg nicht zuletzt seiner Biografie zu verdanken haben, denn sie könnte kaum besser zur britischen Hauptstadt passen. Khan ist Sohn eines pakistanischen Einwanderers, der seinen Lebensunterhalt als Busfahrer verdiente. Seine Mutter arbeitete als Näherin, die insgesamt zehnköpfige Familie hauste in einer kleinen Sozialwohnung in Südlondon, wo Khan sein Schlafzimmer mit zwei Brüdern teilte. Nach einem Jura-Studium arbeitete er als Menschenrechtsanwalt, bevor er in die Politik ging und Labour-Abgeordneter für den Londoner Stadteil Tooting wurde. Khan stieg schnell auf und diente in der letzten Labour-Regierung als Staatsminister für Verkehr. Er war der erste Muslim in Großbritannien, der es bis ins Kabinett geschafft hatte.

Er wird Parteichef CorbynKonkurrenz machen

Solch eine Biografie hat Vorbildfunktion, zumal in London, dem Schmelztiegel des Landes, wo mehr als 150 Sprachen gesprochen werden und sich mehr als die Hälfte der Einwohner als „nicht weiße Briten“ bezeichnet. Der 45-Jährige ist durch und durch ein Selfmademan, der sich nach oben gearbeitet hat und den Londonern damit demonstriert, dass alles möglich ist.

Für eine Stadt, die sich selbst als tolerant, multikulturell und im Zweifel links versteht, war Khan damit der ideale Bürgermeisterkandidat. Im Wahlkampf hatte er es mit Zac Goldsmith zu tun, der in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenstück darstellte: Milliardärssohn, privilegiert, konservativ, weiß. Goldsmith führte eine Schmutzkampagne gegen Khan, in der der sunnitische Muslim als „radikal“ etikettiert und in die Nähe von islamistischen Extremisten gerückt wurde, weil er als Menschenrechtsanwalt in der Vergangenheit auch unangenehme Zeitgenossen wie den Islamisten und Judenhasser Louis Farrakhan verteidigt hatte. Hätte Goldsmith mit dieser Kampagne Erfolg gehabt, wäre das ein schlimmes Signal gewesen. Nicht nur für das Zusammenleben von vielen ethnischen und religiösen Minderheiten in der Stadt, sondern auch für Europa, denn Goldsmith ist bekennender Brexit-Fan, er befürwortet Großbritanniens Austritt aus der EU.

Nach seinem Sieg ist Sadiq Khan nun der Politiker mit dem größten persönlichen Mandat im Königreich und der einzige Labour-Repräsentant, der als Bürgermeister einer Millionenmetropole über reale politische Macht verfügt. Er wird seinem Parteichef Jeremy Corbyn, dessen altlinkes Programm im Land ebenso wenig Zustimmung findet wie sein unbeholfenes und erfolgloses Auftreten im Unterhaus, die Rolle als Gesicht der Opposition streitig machen. Seine dringendsten Aufgaben als Stadtoberhaupt werden die Bekämpfung der Luftverschmutzung, die Reform des Nahverkehrs und vor allem der Wohnungsbau sein. London braucht jährlich mindestens 50.000 neue Wohnungen, um den Ansturm der Zuwanderer bewältigen zu können.

So lächerlich es im Wahlkampf war, Sadiq Khan als Freund von Extremisten und damit als latentes Sicherheitsrisiko hinzustellen, so dürfte ein anderer Vorwurf etwas mehr Substanz haben: dass er ein Karrierist sei, der, wenn es opportun sei, Prinzipien über Bord werfe und seine Position ändere. Es gibt da einige Beispiele. Khan hat sich früher für eine Erweiterung des Flughafens Heath­row ausgesprochen, heute will er nichts davon wissen. Er hatte Jeremy Corbyn als Kandidat für den Labour-Vorsitz nominiert, doch im Wahlkampf distanzierte er sich wiederholt von seinem Parteichef. War er früher für eine Reichensteuer, so begrüßt er es jetzt, dass in London 400.000 Millionäre leben. Kurzum: Man weiß nicht so recht, wo genau er eigentlich steht. Seine Fans sehen darin einen „stählernen Pragmatismus“. Seinen Kritikern kann Khan jetzt als Bürgermeister von London zeigen, was er wirklich kann.

Weit weg von London, in Schottland, erlitt Labour dagegen ein Debakel. Die Nationalisten von der SNP konnten den dritten Wahlsieg in Folge feiern. Zwar reichte es nicht zur absoluten Mehrheit, aber die SNP wird eine stabile Minderheitsregierung stellen können, wohl mit der Unterstützung der Grünen. Ministerpräsidentin und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon meinte jedenfalls: „Wir haben Geschichte geschrieben.“ Labour aber verlor Sitz um Sitz und landete auf dem dritten Platz – das ist der Arbeiterpartei hier zuletzt 1910 passiert.

Einen Triumph konnten die Konservativen unter ihrer Chefin Ruth Davidson feiern. Sie verdoppelten die Zahl ihrer Sitze. In den Wahlen zum Regionalparlament in Wales konnte Labour sich gerade so behaupten. Man bleibt dort stärkste Partei, wird aber nicht mit absoluter Mehrheit regieren können. Der Erfolg der rechtspopulistischen Ukip, die im traditionell europafreundlichen Wales erstmals ins Parlament kam und sieben Sitze erringen konnte, ist dramatisch. Das lässt für das Referendum am 23. Juni über den britischen Verbleib in der EU Sorgen aufkommen.

Wenig Veränderungen brachten die Kommunalwahlen in England. Die Konservativen hielten sich ordentlich, Labour verlor Gemeinderäte, aber nicht in dramatischer Weise.