Berlin. Möglicherweise nimmt der „Islamische Staat“ deutsche Anlagen ins Visier. Doch die Behörden dementieren entsprechende Medienberichte

Etwa 300.000 Kugeln lagern hinter einer Mauer neben dem Gelände des Forschungszentrums in Jülich. Jede so groß wie ein Tennisball, die meisten aus Uran, eingeschlossen in Castoren. Hatten es Terroristen des „Islamischen Staates“ auf das nukleare Material abgesehen? Das jedenfalls legt ein Bericht des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“ nahe. Danach hat Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen mehreren Mitgliedern des streng vertraulich tagenden Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages in Vieraugengesprächen über einen heiklen Fund berichtet: Belgische Ermittler sollen in der Brüsseler Wohnung des Ende März festgenommenen IS-Terroristen Salah Abdeslam ausgedruckte Internetartikel über die Anlage in Jülich entdeckt haben – und Fotos des Vorstandschefs des Zentrums, Wolfgang Marquardt.

Doch das Dementi dieser Nachricht ist hart. Eine Sprecherin des Verfassungsschutzes erklärte gestern: „Wir haben keine Informationen über solche Funde. Und Präsident Maaßen hat auch in einer solchen Angelegenheit keine Gespräche mit Abgeordneten geführt.“ Auch mehrere Mitglieder des Kontrollgremiums, wie etwa der CDU-Politiker Clemens Binninger, genauso wie das Innenministerium und das für die Atomaufsicht zuständige Wirtschaftsministerium in Nordrhein-Westfalen erklären: Man wisse nichts.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein möglicher Atomterrorplot für Aufsehen sorgt. Wie in der Vergangenheit bleibt vieles spekulativ. Und doch gab es bereits Hinweise. Kurz nach den Anschlägen von Paris fanden belgische Ermittler in der Wohnung eines Islamisten Videoaufnahmen – offenbar wurde ein Nukleartechniker ausspioniert. Auch Abdeslam war Teil dieser Gruppe. Daraufhin wurden die Sicherheitsvorkehrungen an den belgischen AKWs verstärkt und unter anderem Militär zur Bewachung eingesetzt. Nach den Anschlägen in Belgien im März hatte die Atomaufsicht nun mehreren AKW-Mitarbeitern die Eintrittsausweise entzogen. Es gab Hinweise auf Verbindungen zu Islamisten.

Uran allein reicht nicht – wer Atomwaffen will, braucht Wissen

Bereits seit vielen Jahren betreibt das Forschungszentrum in Jülich keine nuklearen Versuche mehr. Auf dem Gelände lagert nur Atommüll. „Und der ist nicht waffentauglich“, sagt ein Sprecher des Zentrums. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden rund um den Atommüll in Jülich die Sicherheitsmaßnahmen verschärft. Ein privater Sicherheitsdienst patrouilliert am Gelände, 24 Stunden am Tag. 2014 wurde eine zusätzlich Mauer um die Anlage gezogen. Doch auch der Anschlag der al-Qaida-Terroristen, die mutmaßlich eines der entführten Flugzeuge 2001 auf einen Atomreaktor zusteuern wollten, scheiterte. Bisher gab es keinen Terroranschlag mit radioaktivem Material.

Selbst wenn IS-Terroristen an nukleares Material rankommen, können sie damit wenig anfangen. Atomwaffen seien schwer herzustellen und zu bedienen, sagt Terrorexperte Petter Nesser vom norwegischen Forschungsinstitut FFI. „Solange Terroristen auf einfachen und günstigeren Wegen an Waffen kommen, werden sie das eher nutzen.“ Bisher stellt der IS etwa kleinere Mengen vom gefährlichen Senfgas her. Dennoch sagt auch Nesser: Durch Training und Eroberungen könnten Islamisten auch komplexere Waffensysteme entwickeln. Kurz nach dem Attentat von Paris mussten viele Experten ihre Überraschung zugeben: Man habe dem IS ein solch koordiniertes Attentat mitten in Europa noch nicht zugetraut. Und so scheint klar: Trotz Razzien und Festnahmen bleibt der IS auch nach den Anschlägen von Brüssel und Paris eine Gefahr für die Sicherheit Europas.

Dabei musste die Organisation zuletzt mehrere Rückschläge hinnehmen: Gebietsverluste, weniger Einnahmen, Unruhen im Herrschaftsgebiet. Von einem „Durchbruch“ im Kampf gegen den IS wollen Geheimdienste nicht reden. Laut dem amerikanischen Fachmagazin „Jane’s Defense Weekly“ hat der IS seit dem vergangenen Jahr 22 Prozent seines eroberten Gebietes in Syrien und Irak verloren. Geheimdienste bestätigen dies. Gerade bei den Kämpfen mit den Kurden, aber auch durch Angriffe der USA verlor der IS viele Kämpfer, darunter hochrangige IS-Kader und erfahrene Söldner.

Mit der Propaganda der „Unbesiegbaren“ rekrutierte die Terrormiliz Kämpfer. Jetzt geht die Anzahl der Neuen deutlich zurück. Dennoch zählt die Armee des IS noch zwischen 20.000 und 30.000 Kämpfer. Wie stark der IS allerdings unter Druck steht, zeige auch, dass Deserteure nun eine Amnestie erhalten, sagt Terrorexperte Peter Neumann vom Londoner King’s College im Gespräch mit unserer Redaktion. Früher wurden sie getötet – jetzt braucht der IS jeden Kämpfer. Erfolge feiert der IS nun in zerfallenen Staaten wie Libyen, aber nicht mehr im Kerngebiet.

Zu den verlorenen Gebieten zählen strategisch wichtige Orte an der Grenze von Syrien zur Türkei, wie etwa Tall Abyad. Über diese Routen hatte sich der IS versorgt: mit Gütern, Waffen, neuen Rekruten aus aller Welt. Der IS hat Nachschubprobleme. Und bei den Menschen in den besetzten Gebieten gibt es Unruhe. Im irakischen Falludscha probten laut Medienberichten lokale Milizen einen Aufstand gegen den IS. Doch dieser schlug zurück, inhaftierte Dutzende Gegner. Dennoch zeigt der Protest: Die Unzufriedenheit im „IS-Staat“ wächst.

Und der IS hat Geldsorgen. Zwar soll die Terrormiliz über einen Milliardenetat verfügen. Die Einnahmen des IS sind nach Einschätzungen von Sicherheitsleuten jedoch ähnlich stark geschrumpft wie sein kontrolliertes Territorium – um rund 20 Prozent. Das Geschäft mit dem Öl, von dem der IS profitierte, ist durch den niedrigen Ölpreis eingebrochen. Zudem werden durch Luftschläge viele Förderfabriken zerstört. So führt auch der militärische Rückzug zu Einbußen – denn der IS finanziert sich auch durch Plünderungen, Menschenhandel, Steuern und Zahlungen an Checkpoints. Mit jeder verlorenen Stadt, mit jeder verlorenen Straße sinken diese Einnahmen.

Informationen über den IS sind nur schwer zu verifizieren

Nach den Attentaten von Brüssel heißt es nun: Je mehr der IS an Macht in Syrien verliere, desto härter schlage er in Europa zu. Das ist eine häufig vertretene These – plausibel, aber nicht belegt. Experten wie Neumann sehen eine Neuausrichtung: „Seit etwa Anfang 2015 beauftragte der IS spezielle Kommandos in Syrien, Terroranschläge in Europa zu begehen.“ Oft sind diese Informationen nur schwer zu verifizieren. Doch die Zunahme der Anschläge könne bedeuten, dass der IS mehr Ressourcen für den Dschihad in Europa aufwende, sagt auch Terrorexperte Nesser. Aus Sicht von Nesser ist es aber zu früh, um von einer neuen „Europa-Strategie“ des IS zu sprechen. Erstes Ziel der Terroristen sei immer noch die Herrschaft in Syrien und Irak.

Wandelbar aber sei die Strategie einer jeden Terrorgruppe. In einer Analyse der Bundesakademie für Sicherheitspolitik heißt es: Der IS habe bereits von 2006 bis 2011 eine schwere Krise überstanden und ist danach neu aufgestiegen. Der Autor warnt: Verliert der IS sein Herrschaftsgebiet, agiert er auch dort aus dem Untergrund.

Deutschland erlebte bisher keinen Anschlag wie in Paris oder Brüssel, wie in Bagdad oder Aleppo. Aber das hat nach Meinung fast aller Experten wenig mit einer „Gnade“ des IS zu tun. Vielmehr ist es eine Mischung aus Razzien und Festnahmen, Tipps von ausländischen Geheimdiensten – und Glück. Das sagen selbst Mitarbeiter des Verfassungsschutzes. Aus Sicht der Dschihadisten ist Deutschland Teil einer „Allianz der Ungläubigen“. Laut BKA konnten die Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren elf Attentate hierzulande verhindern. 450 sogenannte „Gefährder“ leben in Deutschland, 800 deutsche Extremisten sind in Richtung IS-Gebiet aufgebrochen. „Unsere Recherchen zeigen, dass der IS für Anschläge wie in Brüssel auch Attentäter gesucht hat, die in Großbritannien und Deutschland zuschlagen sollen“, so Experte Neumann.

Doch bisher gilt vor allem: Deutsche Islamisten töteten Zivilisten im Ausland. Allein 20 Dschihadisten aus Deutschland sollen sich im Irak und Syrien in die Luft gesprengt haben, Dutzende Unschuldige starben. Die allermeisten Opfer des IS-Terrors sind Muslime in den arabischen Staaten.