Athen.

Er ist der mächtigste Mann des Landes. Seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein türkischer Präsident die Politik des Landes so stark geprägt wie Recep Tayyip Erdogan. Die Verfassung gibt ihm eigentlich nur repräsentative Befugnisse. Aber seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014 hat der machtbewusste Erdogan immer mehr Kompetenzen an sich gezogen. Regierungschef Ahmet Davutoglu und die Minister gelten als Erdogans Marionetten.

Jetzt will Erdogan die Verfassung ändern und ein Präsidialsystem einführen, das ihm noch mehr Macht geben soll. Die Oppositionsparteien sträuben sich. Deshalb will die konservativ-islamische Regierung die Reform jetzt im Alleingang durchsetzen.

Dass die Türkei eine neue Verfassung braucht, bestreiten auch die Oppositionsparteien nicht. Das geltende Grundgesetz stammt von 1982, aus der Zeit der Militärdiktatur. Es trägt die Handschrift der Generäle. Mehrere Versuche der Parteien, gemeinsam eine neue Verfassung auszuarbeiten, schlugen aber fehl.

14 Stimmen fehlen noch zueiner Verfassungsänderung

Dennoch will die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) die Verfassungsänderung jetzt vorantreiben. Bis Ende April will die AKP ihren Entwurf vorlegen, im Mai oder Juni soll das Parlament darüber abstimmen. Für eine Verfassungsänderung ist eigentlich eine Zweidrittelmehrheit von 367 der 550 Abgeordneten nötig. Nicht zuletzt in der Hoffnung auf eine Zweidrittelmehrheit hatte Erdogan die Neuwahlen im vergangenen November herbeigeführt. Die Wähler möchten seiner AKP doch bitte 400 Sitze bescheren, appellierte der Präsident im Wahlkampf. Dieses Ziel verfehlte die Regierungspartei zwar deutlich. Aber deshalb begräbt Erdogan seine präsidialen Pläne nicht.

Das Parlament kann eine Verfassungsänderung auch mit einer Dreifünftelmehrheit von 330 Stimmen auf den Weg bringen. Die neue Verfassung müsste dann allerdings zusätzlich in einer Volksabstimmung gebilligt werden. Zwar hat die AKP nur 317 Mandate. Die Regierung hofft aber offenbar, sich die fehlenden 14 Stimmen besorgen zu können. Einige Abgeordnete der nationalistischen MHP, die über 59 Sitze verfügt, könnten sich auf die eine oder andere Art „überzeugen“ lassen, mit der Regierungspartei zu votieren, so das Kalkül. Erdogan sprach in den vergangenen Monaten bereits mehrfach vielsagend von „Gemeinsamkeiten“ mit der MHP.

Das erklärt auch, warum es die Regierung jetzt so eilig hat mit der Verfassungsänderung. In der MHP gibt es Bestrebungen zu einem Führungswechsel. Nach dem schlechten Wahlergebnis vom vergangenen November droht dem langjährigen Parteichef Devlet Bahceli die Ablösung. Hat die Partei erst einmal einen neuen Vorsitzenden, könnte es für die Regierung schwieriger werden, Überläufer aus dem MHP-Lager zu gewinnen. Erdogan begründet das Präsidialsystem damit, die Türkei brauche eine starke Führung und die Konzentration der Macht in den Händen eines Staatschefs – gerade jetzt, angesichts der Bedrohungen durch die Bürgerkriege in den Nachbarländern, der Terrorgefahr und des aufgeflammten Kurdenkonflikts. Der Machtzuwachs des Präsidenten ginge auf Kosten des Parlaments, des Kabinetts und wohl auch der Unabhängigkeit der Justiz. Die ohnehin gefährdete Gewaltenteilung würde in der Türkei damit weiter untergraben.

Ohnehin steht Erdogan mit der Gerichtsbarkeit auf Kriegsfuß. Er sieht sich selbst über dem Gesetz. Als das türkische Verfassungsgericht kürzlich die Freilassung von zwei Journalisten anordnete, die Erdogan persönlich wegen einer regierungskritischen Veröffentlichung angezeigt hatte, reagierte der Präsident mit einem Wutausbruch: Er werde das Urteil weder respektieren noch umsetzen, sagte Erdogan. Die Richter hätten „gegen das Land und das Volk“ geurteilt. Er hoffe, so der Präsident, das Verfassungsgericht werde künftig keine Entscheidungen mehr treffen, „die Fragen nach seiner Existenz und Rechtmäßigkeit aufwerfen“. Im Klartext: Entweder das Verfassungsgericht fügt sich Erdogan – oder es wird kurzerhand abgeschafft.

Mit der Einführung des Präsidialsystems wolle sich Erdogan zum „Sultan“ aufschwingen, fürchten Oppositionspolitiker. Das schlimme Wort vom „Ermächtigungsgesetz“ macht die Runde – eine Anspielung auf den Aufstieg der Nazis in der Weimarer Republik. Die prokurdische Partei HDP wirft Erdogan vor, eine Diktatur errichten zu wollen. Der Präsident strebe „eine Alleinherrschaft an, eine konstitutionelle Diktatur, die alle Macht in einer Hand bündelt“, sagt der HDP-Chef Selahattin Demirtas. „Wir müssten wahnsinnig sein, dem zuzustimmen.“