Brüssel .

Eine zornige Minderheit der Niederländer hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihren Missmut über die EU zu bekunden und dieser damit beschert, was sie schon im Überfluss hat: Krise. Der Chef der Brüsseler EU-Zentrale, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, hat vorab sogar von einer „kontinentalen Großkrise“ geraunt, wenn das holländische Referendum über den Assoziierungsvertrag der EU mit der Ukraine scheitere. Es ist gescheitert, die Situation ist da, und sie ist gleichermaßen absurd wie bedrohlich.

Absurd ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Eine „klare Mehrheit“ (nämlich 61 Prozent), heißt es allenthalben, habe sich gegen das Abkommen über Assoziierung und Freihandel (DCFTA) ausgesprochen. Doch das ist eine irreführende Verkürzung. Streng genommen ist das donnernde „Nee“ nur die Meinung einer Minderheit. Nur ein knappes Drittel der 12,5 Millionen Wahlberechtigten hat an der Abstimmung teilgenommen. Und den 17 Millionen Holländern stehen 500 Millionen Einwohner in den 27 anderen EU-Staaten gegenüber, die das Abkommen ohne viel Aufhebens ratifiziert haben.

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Mark Rutte, rechtsliberaler Regierungschef in Den Haag, nun zögert, das Votum als harten Handlungsauftrag zu verstehen. „Einfach so ratifizieren“, gehe nicht, sagt der Premier. Was aber gehe, müsse man erst überlegen, und das werde ein paar Wochen dauern – der Mann spielt auf Zeit. Behilflich ist dabei Donald Tusk, als Präsident des Europäischen Rates der Chefmanager der EU-Gipfel. Das Abkommen werde ja im Vorgriff auf die vollständige Ratifizierung zu großen Teilen bereits praktisch angewendet. Dabei solle es bis auf Weiteres auch bleiben, erklärt der Pole. So werden die EU-Oberen nichts unversucht lassen, die unmittelbaren Folgen des Plebiszits zu entschärfen.

In ihrer Abneigung gegen Europa treffen sich Rechte und Linke

Im Verhältnis zur Ukraine mag das dank der Findigkeit der Juristen sogar gelingen. Sie dürften Mittel und Wege finden, wie der Pakt mittels Ausnahme- und Umgehungsklauseln zugunsten der Niederlande Bestand haben kann. Was die grundsätzliche Bedeutung für Europa anlangt, ist der von Juncker befürchtete Schaden hingegen bereits eingetreten. Wenn auch vielleicht nicht so massiv, wie vom niederländischen Rechtspopulisten und Islamhasser Geert Wilders triumphierend verkündet. Wilders feiert den Ausgang der Volksabstimmung als „Anfang vom Ende der EU“. Das greift der Entwicklung vor, ist aber mehr als reines Wunschdenken. Das von Juncker befürchtete schwarze Szenario ist einen weiteren Schritt näher gerückt, Wilders und seine Gefährten im antieuropäischen Geiste sind weiter auf dem Vormarsch.

Das Scheitern des niederländischen Ukraine-Referendums ist die jüngste Fortsetzung eines bedrohlichen Trends, der die EU in ihren Fundamenten erschüttert. Seit die Niederländer und Franzosen im Frühjahr 2005 an der Wahlurne das hochfliegende Projekt einer EU-Verfassung zu Fall brachten, haben die Rechtspopulisten und EU-Verächter eine lange Erfolgsserie hingelegt, deren Ende nicht absehbar ist. In zwei EU-Staaten sind sie bereits am Ruder. In Ungarn bestimmt die Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orbán schon seit 2010 den politischen Kurs. Sie betreibt die nationale Neuausrichtung von Staat und Gesellschaft im Zeichen von Magyarentum und Katholizismus. Migranten, Minderheiten, Künstler und Fremde haben einen schweren Stand. Mit den „gemeinsamen Werten“ der EU hält sich Orbán hingegen nur so weit auf wie nötig. Beim Widerstand gegen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik entwickelt er hingegen Führungsqualitäten.

Aus demselben politischen Holz geschnitzt ist die im November an die Macht gekommene polnische Regierung. Formal geleitet von der Ministerpräsidentin Beata Szydlo, tatsächlich gelenkt von Jaroslaw Kaczynski, hat sich die neue Führung vom gemeinsamen europäischen Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verabschiedet. Manipulation der Verfassung und Missachtung von Grundrechten gehören zum Instrumentarium. Druck durch die EU-Kommission und den Europarat hat bislang nichts gefruchtet.

Das Übel hat aber nicht nur im Osten des Kontinents Wurzeln geschlagen. Auch in Skandinavien regieren einschlägige Parteien seit Langem mit, mal als Koalitionspartner, mal durch Duldung einer Minderheitsregierung, mal als politische Kraft, auf deren nationale Parolen die Konkurrenz meint, Rücksicht nehmen zu müssen. In Dänemark machte die hochgradig EU-skeptische Volkspartei im Dezember trotz der umlaufenden Terrorängste erfolgreich Stimmung gegen eine engere Polizeizusammenarbeit – abgelehnt per Referendum.

Bei den Regionalwahlen in Frankreich konnte Ende des Jahres der Vormarsch des rechten Front National nur durch ein „republikanisches“ Zweckbündnis aus Sozialisten und Konservativen gestoppt werden – vorläufig. Denn die Sorge geht um, dass bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 FN-Chefin Marine Le Pen mindestens in der ersten Runde siegen und damit eine unabsehbare Dynamik in Gang bringen könnte.

Erste Nutznießer des Sieges der EU-Verächter in Holland dürften indes die Gesinnungsfreunde in Großbritannien sein. „Ein großes NO zu Europa“, sei der Ausgang der Abstimmung, jubiliert Nigel Farage, Chef der EU-Austrittspartei UKIP. Für den 23. Juni sind seine Landsleute zur Abstimmung gebeten, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder ihr den Rücken kehren soll. Der Ermunterungseffekt könnte umso stärker ausfallen, als es sich bei der holländischen Kampagne gegen den Ukraine-Pakt gar nicht um eine lupenrein rechte Veranstaltung handelte. Zu den Befürwortern zählten auch die oppositionellen Sozialisten, und die sind im Rochus gegen Brüssel und alles, was damit zusammenhängt, mit den Rechten ein Herz und eine Seele.

Den Nein-Sagern sei nicht nur das Abkommen der „zu korrupten Ukraine“ gegen den Strich gegangen, erklärt Sozialistenchef Emile Roemer. „Sie wollten auch zeigen, dass Europa eine Sache nur für Eliten und Multis ist.“ Was also tun? Man müsse sich wohl grundsätzliche Gedanken über Volksabstimmungen machen, meint der SPD-Europaabgeordnete und Verfassungsexperte Jo Leinen. „Die direkte Demokratie wird dazu missbraucht, die europäische Einigung zu untergraben.“