Izmir.

Decken und leere Plastikflaschen liegen noch auf dem Zement. Genauso wie das verkohlte Holz vor der Treppe, wo sie abends ein Lagerfeuer angezündet haben, um sich zu wärmen. Und ein rosa Kinderpullover im Schmutz. Eines Morgens, vielleicht war es erst gestern, müssen die Menschen aus der Bauruine geschlichen sein, quer über den Schotter und vorbei an dem Gestrüpp, den Hang hinunter zum Ufer. Sie müssen in eines der wackeligen Schlauchboote gestiegen sein, ihre Schuhe und Hosen nass von den Wellen, um ihre Schultern billige Schwimmwesten. Vor ihnen acht Kilometer Wasser. Acht Kilometer bis zum Traum Europa. Acht Kilometer, auf denen sie ertrinken können.

Jetzt ist niemand mehr da. Ein Hund streunt über die Veranda. Der Wind weht durch die Villa, die nicht mehr ist als ein Skelett aus Beton, Ziegeln und Steinen. Auf der anderen Seite der Meerenge hängen schwere Wolken in den Bergen der griechischen Insel Chios. An diesem Morgen hat keines der Schlepperboote mit Flüchtlingen von diesem Ufer nahe der kleinen Küstenstadt Cesme abgelegt. Und noch weiß niemand so richtig: Liegt es an den Kontrollen? Am neuen Abkommen zwischen der Türkei und der EU? Oder einfach nur am schlechten Wetter?

Der Barmann im Café „Uludag“ wischt über die Tischdecke. Dann geht er vor zur Promenade und zeigt auf das Hafenbecken. „Dort liegt das Boot der türkischen Marine“, sagt er. „Und im Hafen eines der Küstenwache.“ Zwei Schiffe sind zudem auf dem Wasser. Vom Ufer aus sieht man sie patrouillieren. „Sie kontrollieren seit einigen Wochen mehr“, sagt er. „Und die Syrer, Afghanen und Iraker sieht man weniger.“ An diesem Morgen wirkt Cesme wie ein ganz normaler Ferienort im Winterschlaf.

Von Montag an will die griechische Polizei Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken. Gleichzeitig nimmt die EU Syrer aus der Türkei auf. Das ist der Plan. Langfristig soll der Pakt die Fluchtkrise eingrenzen. Vor allem um eines geht es dabei: die Zahlen. Und die sinken. Mal sind es noch 70 Menschen, die im Schlauchboot innerhalb von 24 Stunden auf den griechischen Inseln ankommen, mal nur eine Handvoll, dann keiner, dann wieder mehr als 500. Ganz gestoppt ist die Flucht aus der Türkei nicht. Aber noch Mitte Februar waren es an manchen Tagen fast 5000 Menschen, die in Griechenland ankamen, im Schnitt mehr als 2000. Jetzt sind einige Camps auf den Inseln halb leer – dafür harren Tausende in überfüllten Lagern auf dem Festland aus. Und in Deutschland kommen kaum noch Geflüchtete an.

Küstenwache bringt dieFlüchtlinge zurück nach Izmir

Neben dem Café im Küstenort Cesme steht das große Gebäude der Polizei, „Jandarma“. Ein junger Mann mit Uniform und Maschinenpistole steht vor dem Zaun. Er sagt, die Küstenwache stoppe die Menschen in den Schlauchbooten und bringe sie hierher. Dann werden sie zurück in die Metropole Izmir transportiert. Mehr dürfe er nicht sagen. Sein Vorgesetzter blickt mürrisch zu ihm rüber. Der Barmann nebenan und andere Anwohner von Cesme bestätigen aber, was der junge Polizist erzählt. Und der Barmann sagt: „Die bekommen hier auch Essen und trockene Kleidung.“ Funktioniert der Plan der EU?

Hedi raucht Kette. Er sitzt auf der Bank in einem Café in der Altstadt von Izmir. Dann piept sein Handy. Seine Schwester, schon wieder. Diesmal schreibt sie nicht mehr viel, nur noch: vier Ausrufezeichen. Und vorher: „Hedi, Bruder, wie geht es dir? Was machst du? Melde dich! Hedi? Bitte!“ Hedi hat ihr nicht geantwortet. Der 35-Jährige nimmt einen Zug von seiner Zigarette. Dann sagt er: „Was soll ich ihr denn schreiben?“ Hedi sitzt fest, ohne Geld, ohne einen Ausweg. Er, der ältere Bruder, droht zu scheitern. Zum zweiten Mal. „Das kann ich ihr einfach nicht sagen.“

Hedi kennt Karlsruhe, Siegen und Hildesheim, zumindest die Erstaufnahmelager dort. Er kennt Griechenland, Mazedonien und den Rest vom Balkan. Vor einem halben Jahr ist er schon einmal geflohen, aus Tunesien mit dem Flieger nach Istanbul. „Dort warten schon Algerier am Flughafen, die dir spezielle Reiseangebote machen.“

Er meint die Schlepper. Und einen von ihnen will er morgen wieder in Izmir treffen. Einen Tunesier wie er. Hedi sagt, der sei seine letzte Chance, um es doch noch nach Europa zu schaffen. Diesmal will er sein Glück zu einem besseren Leben vielleicht in Belgien suchen.

Anfang März einigten sich in der Küsten-Metropole Izmir Griechen und Türken auf eine Zusammenarbeit in der Ägäis. Der linke Premier Alexis Tsipras traf hier seinen türkischen Kollegen Ahmet Davutoglu. Es war der erste Besuch eines griechischen Regierungschefs seit 1921. Izmir ist die drittgrößte Stadt der Türkei, vier Millionen Menschen leben hier, mit Wolkenkratzern im Zentrum und Containerschiffen im Hafen. Und mit dem Viertel „Basmane“, das manche hier „Little Syria“ nennen, das kleine Syrien. So wie „Little Italy“ in New York. Nur dass diese Migrationsgeschichte in der Jetztzeit spielt.

Syrerinnen mit ihren eingewickelten Babys hocken an der Bushaltestelle und verkaufen für ein paar Lira Packungen mit Taschentüchern. In manchen Geschäften an der Hauptstraße hängen neben Schuhen und Jeans auch Schwimmwesten in leuchtendem Orange. Die Speisekarten vieler Cafés sind auch auf Arabisch.

Es sind Menschen wie Hedi, die hierher kommen und höchstens zwei Wochen bleiben, bis sie einen Schlepper finden, der sie im Boot nach Griechenland bringt. „Im Moment haben alle Angst wegen der Kontrollen an der Küste“, sagt Hedi. Aber auch wegen des Abkommens zwischen der EU und der Türkei. „Ich habe gehört, dass viele zurückgeschickt werden sollen.“ Dennoch wolle er es probieren. Er will vorwärts kommen. Oder zurück nach Tunesien. „Jedenfalls kann ich nicht mehr länger hier bleiben.“ Ihm fehle das Geld. Für umgerechnet zwei Euro bekommt er manchmal ein Bett in einer der kleinen Pensionen in den Nebenstraßen von Basmane. Manchmal schläft er auf einer Bank in einem Café.

800 Dollar für einen Platz im Schlauchboot nach Griechenland

Die Kurdin Hivi aus der syrischen Stadt Afrin lebt in einer Wohnung am Rand von Izmir, schon seit Monaten ist sie hier. Sie, ihr Mann, die drei Kinder. Zwei Zimmer, 300 Lira Miete zahlen sie, 100 für Strom und 50 für Wasser. Fast 150 Euro. Geld, das sie selbst nicht aufbringen kann. Hivis Bruder sei schon vor Jahren nach Dänemark geflohen, er schicke ihnen Geld zum Überleben in Izmir. Nur wie lange reicht das?

Jetzt steht Hivi vor dem Registrierungszentrum in der Altstadt von Izmir, sie hat eine Nummer gezogen. Gerade warten Dutzende Menschen auf einen Termin. Auch Hivi hat gehört, dass Geflüchtete aus Griechenland wieder in die Türkei abgeschoben werden. Deshalb will sie nicht illegal mit einem Boot übersetzen. „Das ist zu gefährlich.“ Sie hat auch gehört, sie könne in Izmir Asyl für Kanada beantragen. Das soll ihr Ausweg sein.

Ein Freund aus Syrien steht neben ihr, für 1000 Lira im Monat verkauft er Handys in einem Geschäft. Er lebt seit drei Jahren in Izmir. Und auch er will weiter. „Wenn es nicht anders geht, mit einem Schlepper.“ Den Preis hat er auch schon herausgefunden: 800 Dollar für ein Schlauchboot nach Griechenland. Kennt er den Pakt der Türkei mit der EU? Der Mann zuckt mit den Schultern, als interessiere ihn das nicht. Hauptsache weg, Hauptsache weiter. Inshallah, so Gott will.

Doch nicht alle wollen weg. Auch der Syrer Hamza lebt in Izmir, er kommt an diesem Tag zum Registrierungszentrum, um seine Aufenthaltsgenehmigung in der Türkei zu verlängern. Drei Monate musste er warten. Hamza sagt: „Mir geht es gut in der Türkei, ich arbeite hier, verdiene ein bisschen Geld und wenn der Krieg in Syrien vorbei ist, gehe ich zurück.“ An Europa: kein Interesse. Zu Schleppern: keinen Kontakt.

Ahmet Günay sitzt an seinem Büro im dritten Stock in der Altstadt von Izmir. Vor seinem Fenster wachsen Orangenbäume. Unten schleppen Helfer gerade Kartons mit Hygieneartikeln und Ölheizungen in den Flur. Ahmet ist Sozialarbeiter bei der Organisation „Asam“, die Asylsuchenden in der Türkei hilft. 5000 Geflüchtete kommen jeden Monat in das Zentrum, es waren auch schon mal 10.000. Günay sagt: „Der Pakt mit der EU hat vieles verändert.“ Früher habe die türkische Küstenwache jeden Tag ein paar Dutzend Menschen auf See gestoppt, heute seien es oft mehrere Hundert. Kaum ein Schlauchboot komme noch durch nach Griechenland. „Wir erwarten eine riesige Zahl an Flüchtlingen in der Türkei.“

In Izmir sind bereits80.000 Syrer registriert

Hilfsorganisation wie „Ärzte ohne Grenzen“ kritisieren das Abkommen. Die Ärzte stellten ihre Arbeit in den Insel-Camps sogar ein. Der EU-Türkei-Pakt sei illegal und unmoralisch, weil mit der Rückführung aller Flüchtlinge in die Türkei das individuelle Recht auf Asyl untergrabe. „Angst und Konfusion macht sich unter den Geflüchteten breit“, sagt Boris Cheshirow vom UNHCR. Und mehr Syrer, Afghanen oder Iraker würden über Polizeirazzien und Inhaftierungen auf türkischer Seite berichten. Bereits an mehreren Orten im Land hat die türkische Regierung Lager eingerichtet für Menschen, die zurückkommen aus Griechenland. Und die dann weiter abgeschoben werden sollen – etwa nach Afghanistan oder Pakistan. Kürzlich kam es in der Küstenstadt Dikili zu Protesten von Geflüchteten gegen die Inhaftierung.

Günay hoffe nicht, dass es zu heftigen Unruhen komme. „Wenn die Menschen viel Geld für die Schlepper zahlen und dann doch in einem Lager in der Türkei landen, werden sie wütend.“ Viele würden es wieder probieren, vielleicht über andere Routen – und die Preise der Schleuser steigen. „Wir raten in den Gesprächen den Menschen von der Überfahrt nach Griechenland ab. Aber es gelingt uns nur in Einzelfällen.“

Nach Angaben von „Asam“ sind 80.000 Syrer in Izmir registriert, offiziell. Inoffiziell sind es doppelt so viele. Ein Drittel von ihnen, sagt Günay, wolle weiter nach Europa. Ein Drittel harre hier aus, bis der Krieg in Syrien ende. Und ein Drittel wolle in der Türkei ein neues Leben beginnen.

Viele landen in der Schattenweltder türkischen Metropolen

Sechs Milliarden Euro soll die Türkei von der EU bekommen, um die Situation der etwa zwei Millionen Geflüchteten allein aus Syrien zu verbessern. Doch Menschenrechtler beobachten, dass Migranten oft unter widrigen Bedingungen in der Türkei leben: Viele schlagen sich mit Jobs auf dem Schwarzmarkt durch, sie wohnen in kleinen Appartements mit mehreren Leuten, erst vor ein paar Monaten gewährte die Regierung Syrern Zugang zum Gesundheitssystem. Viele landen in der Schattenwelt der türkischen Metropole wie im Viertel Basmane in Izmir. An der Grenze der Verzweiflung.

Andere landen im Schlamm. So wie der kleine Bilal. Der Junge steht barfuß mit seiner Schwester vor einem der Zelte aus Plastikplanen und Holz, gerade hat ein Platzregen kleine Flüsse in die Erde gerissen. Ein Mann schleppt Holz zu einer Feuerstelle, Heizungen hat hier niemand. 400 bis 600 Syrer leben hier, 50 Kilometer entfernt von Izmir, von den Behörden offenbar ignoriert, nicht registriert, aber geduldet, irgendwo zwischen Lagerhallen, Wäldern und Feldern, auf denen Syrer in der Erntesaison arbeiten. Weil sie sich keine Wohnung leisten können, leben sie in Zelten. Im Schlamm.