Brüssel/Berlin .

Ins Gefängnis will er nicht. Dann lieber sterben. Ibrahim El Bakraoui hat mit dem Leben längst abgeschlossen. Sogar ein „Testament“ hat er aufgenommen, eine letzte Erklärung in einer Audiodatei. Nun ist der 29 Jahre alte Mann bereit. Bereit für den vermeintlichen Märtyrertod. Bereit, sich auf dem Flughafen in Brüssel in die Luft zu sprengen.

Ibrahims Bruder Khalid (27) ist der Selbstmordattentäter, der einen Anschlag auf die U-Bahn im Europa-Viertel verübt hat, genauer gesagt: auf die Metro-Station Maelbeek. Anhand der Fingerabdrücke hat man beide Brüder zweifelsfrei identifiziert. Wenn aber Khalid nicht auf dem Flughafen war, wer sind dann die anderen beiden Männer, die – von einer Sicherheitskamera aufgenommen – im Flughafengebäude zusammen mit Ibrahim ihre Gepäckwagen vor sich herschieben? Diese Frage sorgt am Tag nach dem Anschlag für große Verwirrung.

Die heißeste Spur zu den Attenätern verdanken die Ermittler einem Taxifahrer. Er führt die Beamten zum Versteck der Terroristen. Als er die Nachrichten hört, erinnert sich der Chauffeur daran, wie er drei Männer vom Stadtteil Schaerbeek abholte und zum Flughafen fuhr. Er ruft vor seinem geistigen Auge alle Details ab: dass sie einen Großraumtaxi bestellt hatten und sich ärgerten, dass nur eine Limousine vorfuhr, dass sie nicht ihr gesamtes Gepäck verstauen konnten, sondern nur drei Koffer, dass sie jede Hilfe beim Ein- und Ausladen abgelehnt hatten. Merkwürdig.

Nachdem er die Geschichte der Polizei erzählt hat, lassen sich die Beamten sofort zum Haus fahren. Die erste Durchsuchung bestätigt den Verdacht: Es ist das Versteck. Dort finden sie eine Fahne des Terrornetzwerkes „Islamischer Staat“ (IS) 15 Kilogramm Sprengstoff, 150 Liter Aceton, 30 Liter Wasserstoffperoxid, Zünder und einen Koffer voller Schrauben und Nägel. Das Material kann zur Herstellung von Bomben verwendet werden.

Auf derselben Straße, in einer Mülltonne, werden die Beamten übrigens auch einen Computer mit dem „Testament“ des Attentäters finden. Noch in der Nacht werden weitere Wohnungen in Belgien durchsucht und Verdächtige vernommen.

Am Mittwochmittag rekonstruiert Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw die Abläufe. Um 7.58 Uhr sprengt sich Ibrahim Bakraoui an Schalter 1 an der Abflughalle des Flughafens in die Luft. Die zweite Detonation habe sich neun Sekunden später nahe Schalter 2 ereignet. Ein dritter Täter habe die größte Bombe deponiert, sei aber vor den Explosionen aus dem Gebäude gerannt. Der Mann hatte eine große Tasche bei sich, „da war der stärkste und größte Sprengsatz drin“, erzählt der Staatsanwalt. Zum Glück explodiert die Bombe nicht. Die Tasche wird entdeckt und von der Polizei kontrolliert gesprengt.

Eines scheint sicher zu sein: Der mittlere der drei Männer auf dem Foto der Überwachungskamera ist Ibrahim El Bakraoui. Bei einem der anderen beiden Männer handelt es sich Medienberichten zufolge um den bislang als Terrorverdächtigen gesuchten Najim Laachraoui (24). Er hat sich demnach ebenfalls in die Luft gesprengt. Dies bestätigten die Behörden zunächst aber nicht. Unklar bleibt, wer der dritte Mann auf dem Bild ist.

Insgesamt vermuten die Behörden ein Netzwerk von bis zu 30 Terroristen. Niemand weiß, wer und wo sie sind, was sie planen, ob sie sich verstecken oder unterwegs sind, womöglich auch in Deutschland. Am Mittwochabend gibt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bekannt, die Türkei habe die belgischen Sicherheitsbehörden bereits im Juli vergangenen Jahres vor einem der Attentäter – Ibrahim El Bakraoui – gewarnt. Doch trotz des Hinweises, dass der Mann ein „ausländischer terroristischer Kämpfer“ sei, sei er von den belgischen Behörden nicht festgesetzt worden.

Es ist ein Vorwurf, den Belgiens Justizminister Koen Geens noch am Abend zurückweist. El Bakraoui habe in Belgien keine terroristischen Straftaten begangen, sagte Geens dem Sender VRT. Als er von der Türkei ausgewiesen wurde, sei er lediglich als normaler Straftäter auf Bewährung bekannt gewesen. Seines Wissens sei El Bakraoui auch nicht nach Belgien, sondern in die Niederlande abgeschoben worden, ergänzte Geens.

Der 24 Jahre alte Laachraoui gilt als IS-Rekrutierer und Bombenbauer, war als Islamist bekannt und stand schon vor den Anschlägen am Dienstag an der Spitze der Fahndungsliste. Vor einem Jahr war er – damals in Abwesenheit – einer der Angeklagten im Prozess gegen das belgische Islamisten-Netz Sharia4Belgium, weil er Nachwuchs für den syrischen Dschihad rekrutiert haben soll. In Syrien vermutete man auch Laachraoui selbst – bis letzte Woche. Als die Ermittler in Brüssel Salah Abdeslam festnahmen, der als Hintermann der Pariser Anschläge gilt, stießen sie auf DNA-Spuren von Laachraoui und andere Hinweise auf ihn.

Der Dschihadist soll im Februar 2013 nach Syrien gereist sein. Anfang September 2015 geriet er – mit falscher Identität unter dem Namen Soufiane Kayal – zusammen mit Salah Abdeslam und einem weiteren Mann, Mohamed Belkaid, in eine Kontrolle an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Abdeslam gab an, er wolle in Österreich Urlaub machen. Die Beamten ließen die Männer fahren.

Im bayerischen Unterfranken soll Abdeslam übernachtet haben. Er sei dort mit zwei anderen Männern im Landkreis Kitzingen in einem Gasthof gewesen, berichtete die bayerische Polizei am Mittwoch. Geprüft wird noch, ob es sich bei einem der beiden anderen Männer eben um Laachraoui gehandelt haben könnte.

Was löste die Tat aus, womöglich Panik und Fahndungsdruck?

Den deutschen Behörden waren weder er noch die beiden Terrorbrüder bisher bekannt. Ihre Namen finden sich in keiner Datei. Das muss nicht viel heißen, die meisten führen mehrere Tarnnamen. Laachraoui nannte sich auch Soufiane Kayal, in Syrien hörte er auf den Kampfnamen Abu Idriss. Wie die Brüder Bakraoui ins Spiel kamen, ist unklar. Sie waren den Sicherheitsbehörden zwar schon vorher bekannt, aber eben nicht im Zusammenhang mit islamistischem Terrorismus. Khalid El Bakraoui habe 2011 eine fünfjährige Haftstrafe wegen Autoraubs erhalten. Merkwürdig nur: Derselbe Khalid El Bakraoui steht auf der „roten Liste“ von Interpol – und zwar wegen Terrorismus.

Man weiß, dass die Brüder in Brüssel geboren wurden, nordafrikanischer Abstammung waren, aber ansonsten ist wenig bekannt. Wer waren sie? Wann wurden sie radikalisiert? Wann wurden aus Ganoven Terroristen? Wurden sie geführt oder waren sie der Kopf einer Zelle? Schließlich: Was hat sie zur Bluttat veranlasst? Was war der auslösende Faktor? Womöglich: Fahndungsdruck und Panik.

Seit den Anschlägen von Paris im November 2015 ist im kleinen Nachbarland nichts mehr, wie es einmal war. Höchste Warnstufe, überall Razzien, Woche für Woche durchkämmen Ermittler einen Bezirk nach dem anderen in Brüssel, nicht nur die Islamistenhochburg Molenbeek. Wenn sie nichts finden, fangen sie von Neuem an. Man kann jetzt nirgendwo untertauchen und sicher sein. Das Heulen der Polizeisirenen wird zum Grundrauschen der Stadt. Es zehrt an den Nerven.

Die Einschüsse kommen näher – für Khalid El Bakraoui, der in Forest wohnt, im Süden der Stadt, gilt das buchstäblich. Bei einem Anti-Terror-Einsatz wird ein Verdächtiger von der Polizei erschossen. El Bakraoui weiß, dass er auch gesucht wird. Der Mann ist hochgradig nervös. In dem „Testament“, das auf dem Laptop in der Mülltonne nahe dem durchsuchten Versteck gefunden worden ist, hält der Terrorist fest, er werde „überall gesucht“ und wolle nicht in einer Gefängniszelle landen: „Immer auf der Flucht, nicht mehr weiter wissen, überall gesucht, nicht mehr sicher.“ Wenn er noch länger warte, riskiere er, der nächste zu sein, der in einer Zelle lande. El Bakraoui konnte aus seiner Sicht also nur auf die Polizisten warten oder – getreu seiner kruden Ideologie – den Märtyrertod wählen.