Berlin.

Wenn Andrea Nahles über die Arbeitswelt der Zukunft spricht, malt sie ein Bild mit großen Chancen: Da gibt es etwa den Malerbetrieb, bei dem die Handwerker ihre Arbeitszeit online selber gestalten können. Über eine Software zum Beispiel auf dem Smartphone buchen die Beschäftigten einzelne Aufträge nach Vorlieben, Ort und Anfahrtsweg, erzählt die Bundesarbeitsministerin begeistert. Die App zeige auch an, welche Arbeiten gerade geleistet würden, und dokumentiere die Arbeitszeit.

„Viele Beschäftigte sind offen für Flexibilität“, sagte die SPD-Politikerin am Dienstag, als sie auf einer Konferenz zur Arbeit der Zukunft in Berlin das Modell vorstellte. Fast alle Beschäftigten seien derzeit mit den Arbeitszeiten unzufrieden. Die Technik biete zwar immer mehr Möglichkeiten, zeitlich und räumlich flexibel zu arbeiten, ein Drittel der Angestellten würde gern im Homeoffice sitzen – aber in den Betrieben herrsche noch immer Anwesenheitskultur.

Das Thema ist konfliktträchtig, das weiß auch Nahles: Mehr zeitliche Flexibilität sei für einen Teil der Arbeitnehmer ein Zugewinn an Freiheit, für andere nur der „pure Druck“. Die Arbeitgeber hätten gern den Abschied vom Acht-Stunden-Tag, die Gewerkschaften plädieren für ein Recht auf Nichterreichbarkeit nach Feierabend.

Nahles will, dass die Arbeitnehmer flexibler arbeiten können, wenn sie es wollen. Als einen der Schritte dorthin sieht sie etwa das Vorhaben der Koalition, den gesetzlichen Teilzeitanspruch zu ergänzen um ein Recht auf Rückkehr in die frühere Arbeitszeit. „Die Arbeit muss im Lebenslauf atmen können“, sagt die Ministerin.

Wie das funktionieren kann, will sie ab Spätsommer in einem „Arbeitszeitdialog“ mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen diskutieren. Am Ende solle aus vielen Bausteinen eine „Wahlarbeitszeit“ entstehen, die Rücksicht nimmt auf unterschiedliche Bedürfnisse im Lebenslauf der Arbeitnehmer.

Es ist einer von mehreren Plänen, die Nahles bei der Konferenz vorstellte. Sie hatte eingeladen, um mit Experten zu beraten, wie sich die Jobs in Zeiten der Digitalisierung verändern – und was die Politik tun muss. Für die Ministerin ist das schon länger ein Thema. Im vergangenen Sommer war sie mit DGB-Chef Reiner Hoffmann im amerikanischen Silicon Valley, um sich ein Bild zu machen, vor welchen Veränderungen auch deutsche Arbeitnehmer stehen.

Ihre Strategie will die Ministerin noch in diesem Jahr in einem Weißbuch zusammenfassen, zentrale Vorhaben kündigt sie jetzt bereits an:

Stichwort Qualifizierung: Nahles fordert, dass Arbeitnehmer auch jenseits des konkreten Berufs weitergebildet werden. Mittelfristig will sie ein „Recht auf Weiterbildung“, das Arbeitnehmer finanziell bei der Qualifizierung absichert. Bezahlt werden soll das vom Staat, den Betrieben und den Arbeitnehmern. Die Bundesagentur für Arbeit will die Ministerin zu einer Bundesagentur für Qualifizierung weiterentwickeln.

Stichwort Selbstständige: In Zeiten der Digitalisierung werden immer mehr Erwerbstätige selbstständig – häufig ohne ausreichende soziale Absicherung und ohne für das Alter vorzusorgen. Es müsse verhindert werden, dass sie am Ende in der Grundsicherung landeten, mahnt Nahles. Möglich sei die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Kleinselbstständige oder der Aufbau eines berufsständischen Versorgungswerks, etwa analog zur Künstlersozialkasse. An beiden Modellen arbeitet ihr Ministerium. Der Grundsatz: Selbst gewählte und gewünschte Selbstständigkeit solle gefördert werden – aber es würden Regeln benötigt, wo Erwerbstätige aus dem Schutz des Arbeits- und Sozialrechts gedrängt werden sollten.

Stichwort Arbeitszeitgesetz: Es werde weiter gebraucht, sagt Nahles, aber das Gesetz müsse passgenauere Lösungen erlauben. So viel wie möglich solle im Betrieb gelöst werden. Nahles verweist auf ein Modell bei Bosch: Dort können Arbeitnehmer nachmittags früher gehen, um mit den Kindern Abendbrot zu essen, und später weiterarbeiten – dann aber ohne Nachtzuschlag.

„Wir können die Arbeitswelt nicht konservieren“, erklärt die Ministerin. In düsteren Szenarien warnen Fachleute zwar, in den Industrieländern werde die Digitalisierung bald fünf Millionen Jobs vernichten. Doch Nahles lässt dumpfen Fortschrittspessimismus und Horrorszenarien nicht zu. Sie betont die Chancen, will gestalten – auch wenn das im Gewerkschaftslager nicht allen gefällt. Die Arbeitnehmer weiß sie hinter sich. Laut einer Umfrage, die auf der Konferenz vorgestellt wurde, herrscht derzeit unter den Beschäftigten zwar Unzufriedenheit: Nur ein Fünftel der Befragten erklärt, die eigene Situation entspreche ihrem Idealbild von Arbeit. Doch für die Zukunft erwarten die Beschäftigten, dass sich die Lage deutlich verbessert – mit dem technologischen Fortschritt werde es mehr Gestaltungsspielraum und Selbstentfaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz geben.

Nahles sieht diese Zuversicht als Bestätigung. Ihr Ziel ist es, mehr Flexibilität für Betriebe und Beschäftigte mit neuen Sicherheiten zu verknüpfen. Es geht um viel bei diesem Kompromiss, glaubt sie: Die produktive Kraft der Digitalisierung mit der sozialen Marktwirtschaft in Einklang zu bringen, sei die Schlüsselfrage nicht nur für die Arbeitswelt – sondern auch für die Demokratie und die gesamte Gesellschaft.