Mainz.

Wenige Tage vor den Schicksalswahlen machen Malu Dreyer und Sigmar Gabriel ungewöhnliche Zukunftspläne. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin besichtigt zusammen mit dem SPD-Chef ein Sozialwohnungsprojekt in Mainz, in einer der Neubauwohnungen hakt sich Dreyer im roten Anorak bei Gabriel unter. Sie diskutieren über Vor- und Nachteile offener Küchen, es riecht nach frischer Farbe, gemeinsam blicken sie aus der Terrassentür. Dann sagt Gabriel plötzlich zu Dreyer: „Hier ziehen wir jetzt ein.“ Beide lachen. Ein Scherz, klar. Und ein demonstrativer Schulterschluss von zwei Genossen unter Druck.

Der SPD-Chef ist entspannt und – einer hartnäckigen Erkältung zum Trotz – gut gelaunt. So schön kann Wahlkampf sein. War da nicht was? Der SPD droht doch bei den Landtagswahlen am Sonntag ein Debakel. Hier in Rheinland-Pfalz könnte die SPD nach 25 Jahren die Macht verlieren. In Baden-Württemberg wird die SPD auf nur noch 13 Prozent taxiert, in Sachsen-Anhalt auf 15 bis 17 Prozent – in beiden Ländern wäre die AfD mindestens auf Augenhöhe. Eine Schmach für die Sozialdemokraten.

Dreyers Aufholjagd könnte den SPD-Vorsitzenden entlasten

Gabriel ist für einen Tag nach Mainz gereist, um der SPD-Ministerpräsidentin im Wahlkampf zu helfen. Nur macht Dreyer keinen Hehl daraus, dass sie gerade keine Hilfe aus Berlin braucht. „Es geht um unser Land, nicht um Gabriel oder Merkel“, erklärt sie. Der Einfluss der Bundespolitik auf die Landtagswahlen werde ohnehin überschätzt. Und im Land sieht es plötzlich unerwartet gut für sie aus. Nach einer überraschenden Aufholjagd mit einer ganz auf sie zugeschnittenen Kampagne steht Dreyer kurz davor, ihr Amt als Ministerpräsidentin doch noch gegen die CDU-Herausforderin Julia Klöckner zu verteidigen. In der neuesten Umfrage liegen CDU und SPD gleichauf bei 35 Prozent, der Trend spricht für die Genossen. Dreyer sagt selbstbewusst: „Endlich kommen meine guten persönlichen Werte auch der SPD zugute.“ Und dem Parteivorsitzenden. Denn in verkehrten Rollen hilft die Spitzenkandidatin nun Gabriel – in seinem Kampf gegen den eigenen Abstieg.

Innerhalb und außerhalb der Partei kursieren Spekulationen über einen Rückzug des Vorsitzenden, wenn der Wahlsonntag doch in einer großen Pleite endet. „Die Wahlen können die SPD mächtig durchschütteln, das wird ein paar Wochen sehr unruhig“, sagt einer in der SPD-Führung. Seit Wochen ist das unter Genossen das Diskussionsthema. Kippt Rheinland-Pfalz doch noch, wäre das ein Schock für die Partei. Und die Frage würde lauter, ob die SPD unter dem Vorsitzenden Gabriel überhaupt noch aus dem Tief herauskommt, das sie bundesweit in Umfragen bei allenfalls 25 Prozent gefangen hält.

„Hängt Ihr Schicksal an Malu Dreyer?“, wird Gabriel in Mainz gefragt – Dreyers fulminante Aufholjagd im Sinn, lacht er die Frage einfach weg. In Berlin hat er schon Klartext geredet: „Warum sollte ein Bundesvorsitzender einer Partei nach Landtagswahlen zurücktreten?“ Dann hätte CDU-Chefin Angela Merkel von ihrem Posten nach vielen verlorenen Landtagswahlen schon längst zurücktreten müssen, meint der Vizekanzler. „Man läuft in einer Krise, wie sie Deutschland derzeit erlebt, nicht davon.“ Gabriel will nicht hinwerfen, so viel ist klar. Das Amt als Wirtschaftsminister mit den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten macht ihm derzeit größere Freude, hier fährt er sichtbare Erfolge ein. Aber am Ende bedeutet ihm der Parteivorsitz doch mehr – auch wenn Gabriel, seit ihn der letzte Parteitag bei der Vorsitzendenwahl mit 74 Prozent demütigte, gern etwas ironische Distanz vermittelt. Zwei harte Schicksale habe er zu tragen, juxt der Chef in Mainz beim Wahlkampftermin, „ich bin SPD-Vorsitzender und Mitglied von Werder Bremen.“

Natürlich weiß der Vorsitzende, dass auch in der SPD durchaus Alternativen sondiert wurden – weniger für einen Putsch als für den Fall, dass er von sich aus zurücktritt. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wird als potenzieller Nachfolger und dann auch möglicher Kanzlerkandidat genannt: Sein europäisches Spitzenamt muss Schulz Ende des Jahres wohl abgeben, in Berlin wird er auch schon mal für ein Ministeramt gehandelt. Aber Schulz ist mit Gabriel eng befreundet, stürzen würde er ihn sicher nicht. Ob der in Berlin seit Jahren wenig präsente Europapolitiker die SPD zu neuen Erfolgen führen könnte, ist auch fraglich.

Spekulationen ranken sich ebenso um Hamburgs Regierungschef Olaf Scholz (SPD). Ihm werden Ambitionen nachgesagt, aber Scholz hat Zeit und Geduld. Würde er jetzt den Hut in den Ring werfen, wäre er auch gleich für die absehbare Niederlage bei der Bundestagswahl 2017 mitverantwortlich. Und sein Rückhalt in der Partei ist geringer als der von Gabriel, vor allem die SPD-Linke hätte mit dem wirtschaftsfreundlichen Pragmatiker ihre liebe Not.

Führende SPD-Politiker wollen Gabriel lieber stützen als stürzen

So fordern in vertraulichen Runden auch hochrangige Sozialdemokraten, die Gabriel kritisch gegenüberstehen, der SPD-Chef müsse jetzt gestützt und nicht gestürzt werden: „Das Letzte, was die SPD nun braucht, wäre ein Rücktritt des Vorsitzenden – das würde nur destabilisieren,“ sagt einer aus der Führungsriege, der nicht zu den Gabriel-Fans zählt. Der Vorsitzende dürfe sich jetzt nur nicht verunsichern lassen. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt sei die SPD ja auch vorher schwach gewesen, heißt es dann. Und der Aufstieg der AfD, der das SPD-Ergebnis belastet, sei doch nicht nur ein Problem für die Sozialdemokraten.

Der Vorsitzende kämpft. Er habe eine klare Linie, heißt es in seinem Umfeld. Ob Gabriel auch, wie bisher angenommen, Kanzlerkandidat wird, ist indes offen. Kritiker seines Mitte-Kurses in der SPD haben wegen der Landtagswahlen stillgehalten, aber ab Montag steht wohl auch eine Richtungsdebatte bevor. Gabriel plant anders: Gleich nach den Landtagswahlen will er den Konflikt mit der Union um mehr Haushaltsmittel für Integration und Sozialprojekte weitertreiben – das könnte auch die SPD-Reihen schnell wieder schließen. Sein bisheriger Kurs im zentralen Flüchtlingsthema hat die Partei erstaunlich geschlossen gehalten. Bei der Wahlkampftour in Mainz sieht Gabriel sich immer wieder bestätigt in seinen Forderungen. Als etwa ein Bauunternehmer über die holprige Einarbeitung von jungen Flüchtlingen berichtet, legt der Parteichef los: In den anstehenden Haushaltsverhandlungen müsse es um mehr Geld für Arbeitsgelegenheiten und Qualifizierung für Flüchtlinge gehen, um zusätzliche Wohnungsbaumittel und Sprachkurse. Es ist ein Gruß an den Finanzminister. Und eine Ansage: Nach den Wahlen geht der Kampf weiter.