Berlin/Brüssel .

Auf wen es ankommt, weiß Angela Merkel (CDU) genau. Am Vorabend des EU-Gipfels war sie gestern mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu in Brüssel verabredet. Die Türkei ist ein Schlüsselstaat in der Flüchtlingskrise. Merkel hat damit einen Vorsprung gegenüber allen anderen Staats- und Regierungschefs, wenn sie heute über die Frage beraten. Verhindern sie ein Europa der Zäune? Eine Spurensuche.


Erster Schritt:
Die Türkei gewinnen
Merkel ist Herrin des Verfahrens. Sie hat das größte Interesse an einer Lösung und am Termin – wenige Tage vor drei Landtagswahlen. Auf die Türkei kommt es in zwei Fragen an: bei der Sicherung der Außengrenze und der Verteilung der Flüchtlinge. So führen Merkel und Davutoglu – die Krise macht es möglich – die privilegierte Partnerschaft vor, von der die Kanzlerin seit Jahren redet. Die Ironie ist, dass Merkel mit der Formel einst einen EU-Beitritt der Türkei abblocken wollte, nun aber auf die enge Partnerschaft angewiesen ist.

Denn: Die Türkei ist nicht allein Teil des Problems. Gelegentlich deutet sie an, dass sie Teil der Lösung sein kann. So wurden vom 16. bis 29. Februar „mehr als 15.000 irreguläre Migranten“ an der Reise Richtung EU gehindert. Grenzschutz und Polizei setzten in diesem Zeitraum 391 Schleuser fest. Die Türken könnten, wenn sie nur wollten – und wenn die EU ihnen entgegenkommt: mit Visa-Erleichterungen für ihre Bürger, Fortschritten bei den Beitrittsverhandlungen, mit Finanzhilfen. Und einer Augen-zu-und-durch-Politik?

Dass staatliche Stellen in der Türkei gerade jetzt gegen eine regierungskritische Zeitung vorgingen, ist für den Vorsitzenden des Auswärtigen Aussschusses, Norbert Röttgen (CDU), jedenfalls „kein Zufall“. Die türkische Führung wünsche sich „das Schweigen Europas zu der Verletzung von Menschenrechten“, sagte er dieser Zeitung. Doch Europa werde nicht schweigen, „die Repression in der Türkei wird dauerhaft keinen Erfolg haben“.

EU-Chefdiplomatin Federica Mogherini erklärte lediglich, die Türkei müsse „als Beitrittskandidat hohe demokratische Standards und Vorgehensweisen respektieren und fördern, darunter die Freiheit der Medien“. Auch in Merkels Kabinett verkneift man sich Kritik. Gilt ein offenes Wort als inopportun? Merkel müsse „endlich klare Worte der Kritik finden und aufhören, absichtlich jede menschenrechtliche Sauerei in der Türkei zu übersehen“, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir dieser Zeitung. Es wäre fatal, wenn vom Gipfel das Signal ausginge, dass Europa „über Menschenrechtsverletzungen hinwegsieht, weil ihr die Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik wichtiger sind“.


Zweiter Schritt: Grenzen sichern

Tatsächlich hängt die Sicherung der Außengrenze davon ab, dass die Türkei und Griechenland beim Küstenschutz kooperieren, Nato-Hilfe annehmen, Grenzstreitigkeiten zurückstellen. In Berlin wird kopfschüttelnd berichtet, zwischen beiden Staaten sei jeder Felsen umstritten, selbst unter Wasser. Bisher konnten Nato-Schiffe nicht pa­trouillieren. Merkels Hoffnung vor dem Gipfel ist, dass die Regierung in Ankara konsequenter dabei hilft, die von Schleppern organisierten Überfahrten nach Griechenland zu stoppen, und Migranten zurücknimmt, die nicht – wie Syrer und Iraker – eine Bleibeperspektive in der EU haben, etwa Personen aus den Maghrebstaaten, aber auch aus Afghanistan oder Pakistan. Die Rücknahme soll zunächst über ein bilaterales Abkommen zwischen Athen und Ankara in Gang gebracht werden, später würde eine Vereinbarung mit der EU folgen.

Von den Griechen erwartet die EU, dass sie aber auch ihre Nordgrenze nach Mazedonien sichern. Die frühere jugoslawische Republik gehört nicht zur EU. Die Griechen haben ihre Pflicht, diese EU-Außengrenze zu schützen, lange vernachlässigt. Das ist einer breiten Öffentlichkeit erst bewusst geworden, als die Mazedonier auf Drängen mehrerer Balkanstaaten die Grenze geschlossen haben. Auf dem Balkan soll es bei der Abschottung bleiben. „Diese Route ist jetzt geschlossen“, heißt es im Entwurf der Gipfel-Erklärung – trotz der Kritik am Alleingang Österreichs und seiner Nachbarstaaten. „Wir billigen nicht, wie es dazu gekommen ist. Aber wir akzeptieren das Ergebnis“, sagt ein Diplomat. „Mit dem Durchwinken ist Schluss.“ Die Balkanroute ist dicht – nun stauen sich die Menschen in Griechenland. Jetzt fällt ein zweites Versäumnis auf. Die Griechen haben nicht wie vereinbart bis 2015 Kapazitäten für 56.000 Plätze geschaffen. Das sollen sie jetzt nachholen. Tatsächlich sollen auf dem Gipfel massive Hilfen in Gang gesetzt werden: Mit einem Dreijahresprogramm in Höhe von 700 Millionen Euro und mit dem Aufbau von Anlaufstellen.


Dritter Schritt: Flüchtlinge verteilen

Eigentlich sollte die EU den Griechen auch Flüchtlinge abnehmen. Im geplanten Schlussdokument ist davon nur noch sehr vorsichtig die Rede: „Mitgliedstaaten werden eingeladen, mehr Plätze für die Umsiedlung zur Verfügung zu stellen.“ In Berlin heißt es, Griechenland habe große Bettenkapazitäten, auch sei es Winter und noch keine Hochsaison im Urlaubsland. Im Klartext: Flüchtlinge besser in griechischen Hotels als in deutschen Turnhallen. Griechenland ist jetzt gefordert.

Langfristig aber müsste man Griechen und Türken Flüchtlinge abnehmen. EU-Staaten könnten Syrer direkt aus türkischen Städten oder Lagern ausfliegen. Nur: Wer geht politisch in Vorleistung? Muss die EU erst feste Kontingente garantieren, damit die Türkei die Grenzen dichtmacht? Eher umgekehrt, wenn es nach dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte geht. Die Holländer haben gerade den EU-Vorsitz und die Devise ausgegeben, für die Zahl der Menschen, die Tag für Tag aus der Türkei in die EU gelangen, müsse „die Null in Sicht kommen“.

Auf deutscher Seite wird „eine dreistellige Ziffer“ angepeilt: unter 1000 Flüchtlinge am Tag. Das wäre die „spürbare Reduzierung“, für die Merkel eintritt. Die Kanzlerin könnte einen Rückgang als Trendwende verkaufen. Wenn die Zahlen gegen null tendieren, würde Deutschland wohl vorangehen und eine „Allianz der Willigen“ schmieden. Auch Staaten wie Frankreich, Schweden, Holland, Österreich und Portugal könnten der Türkei Flüchtlinge abnehmen. Quoten wird man heute allenfalls im inoffiziellen Kreis ins Auge fassen: in Merkels privilegierter Partnerschaft mit Davutoglu.