Idomeni.

Daniela Oberti wischt mit einem Tuch über die Wunde. Das Blut verschmiert auf der Stirn des kleinen Jungen aus dem Irak. Oberti tupft Salbe auf den Riss in der Haut über dem Auge, der Junge zuckt zusammen. „Ah!“, ruft er leise. Das Desinfektionsmittel brennt. Dann stoppt das Bluten. Oberti weiß nicht, was passiert ist, sie spricht kein Arabisch. „Vielleicht ist er beim Spielen hingefallen“, sagt sie. Die Hose des Jungen ist braun vom Sand. Vielleicht wurde er auf den Boden gestoßen, irgendwo in diesem Geschiebe und Gedränge zwischen Grenzzaun, Essensausgabe und Schlafzelten im Flüchtlingslager direkt an der Grenze von Griechenland und Mazedonien.

Oberti fasst den Jungen an der Schulter und bringt ihn zur Tür. Sie gehen vorbei an der Liege, auf der ein älterer Mann liegt. Sie gehen vorbei an dem Tisch mit Verbandszeug, Tuben und Tabletten. Im Regal liegen eine Sauerstoffflasche und ein Schockgeber, erst vor ein paar Tagen erlitt ein Flüchtling einen Herzinfarkt. Bis der Rettungswagen aus dem nächsten Krankenhaus kam, mussten ihn die Ärzte im Container am Leben halten.

„Die Klinik“ nennen sie die kleine Praxis im Flüchtlingslager Idomeni, dem Grenzdorf. Dabei sind es nur zwei Container mit Wänden aus Blech. Zwei Ärzte arbeiten hier meist pro Schicht. Und draußen, auf den Wiesen und Feldern um die Container herum, harren mehr als 10.000 Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan aus. Sie wollen weiter, die meisten nach Deutschland. Aber die Grenze ist dicht.

Viele von ihnen sind Kinder und Frauen, aber auch Schwangere, Ältere und sogar Rollstuhlfahrer sind vor Krieg und Krisen geflohen. „Eigentlich haben hier alle irgendetwas“, sagt Oberti. Die 34 Jahre alte Italienerin arbeitet seit einem Monat als Krankenschwester für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in dem Camp. In den vergangenen Jahren half sie schon freiwillig in Somalia, Niger, Kongo und dem Libanon. „So schlimm wie hier war es für mich noch nie“, sagt sie. Hier in Idomeni – mitten in Europa.

Sie sage diesen Satz nicht, weil hier im Lager Epidemien ausgebrochen seien. Oder die Menschen verwundet werden wie in einem Krieg. Die meisten Flüchtlinge kommen mit Fieber, Husten oder Übelkeit. Daniela Oberti sagt diesen Satz, weil sie noch nie so müde Menschen gesehen habe. So frustrierte und wütende Menschen. Und weil sie noch nie so schlimme Geschichten von ihren Patienten gehört habe.

Einmal, erzählt Oberti, sei ein Mann in die „Klinik“ gekommen. Er war schon Mitte 60, und er war gut angezogen, mit Jackett und Anzughose. Der Syrer hatte ein geschwollenes Bein, Thrombose. Vor einer Woche seien ihm auf der Flucht die Medikamente ausgegangen. Was passiert sei, habe Oberti ihn gefragt. Der alte Mann erzählte von den Foltergefängnissen des Diktators Assad, in denen auch er gesessen habe. „Eingepfercht in einer Zelle mit etlichen anderen“, sagt Oberti. Die Männer konnten ihre Beine nicht ausstrecken und hockten da. Wochenlang. Seitdem habe der Mann das geschwollene Bein. „Als er mir davon erzählte, musste er weinen“, sagt Oberti.

Sie geht durch den zweiten Container, das Wartezimmer der „Klinik“. Selten ist eine der Holzbänke leer. In den vergangenen Tagen behandelten sie hier immer mehrere Hundert Menschen. Eine schwangere Frau lehnt ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Ein Teenager fragt nach einem Medikament, „Pred Forte“, er hat ein Bild von der Verpackung auf seinem Handy gespeichert, weil er kein Englisch spricht. „Haben wir leider nicht“, sagt eine Krankenschwester.

Ein kleines Mädchen hockt zwischen ihren Eltern, sie weint, sie hustet, dann erbricht sie. Oberti geht zu dem Mädchen, an ihrer Seite steht Shahreyar, einer der Dolmetscher der Organisation, ein Afghane, der selbst vor Jahren geflohen ist. Oberti schiebt das Fieberthermometer unter den Pullover des Kindes in die Achselhöhle. Mit einem Otoskop schaut sie in die Ohren des Kindes. „Es schreit nicht“, sagt der Dolmetscher. „Das ist schon mal ein gutes Zeichen.“

Einige Flüchtlinge kommen zur „Klinik“ und hoffen, dass sie mit einem Attest schneller durch das Grenztor kommen, als Notfall. Aber die Ärzte verteilen keine Atteste. Würde sich das rumsprechen, stünden Hunderte vor den kleinen Containern.

Es ist Nacht geworden in Idomeni. Ein Platzregen brachte die Zeltstadt zum Schweigen. Auch Daniela Oberti hat Feierabend. In einem großen Zelt neben den Containern übernehmen nun Helfer von „Ärzte der Welt“ die Nachtschicht. Einer von ihnen ist der spanische Arzt Miquel Ramon. Er erzählt von den vielen Kindern, die mittlerweile in den Camps leben. Ein Problem sei oft die Pulvermilch, die Babys in den Flüchtlingslagern bekämen. Ist sie falsch zubereitet, macht sie krank. Manchmal seien die Flaschen nicht gut desinfiziert. Helfer werben bei den Müttern dafür, dass sie ihr Kind stillen. Doch mit 20 oder gar 200 Fremden im Zelt wollen das viele Frauen nicht.

Aus seiner Westentasche zückt Ramon ein Notizbuch. Er hat sich die wichtigsten Vokabeln auf Arabisch aufgeschrieben. Fieber. Husten. Hals. Der wichtigste Satz für einen Arzt im Camp: „Eine Tablette, dreimal am Tag“, sagt Ramon. Das ist die Dosierung vom Schmerzmittel Paracetamol.

Plötzlich springt die Zelttür auf. Eine Pflegerin läuft rein. „Ein Notfall!“ Hinter ihr tragen Flüchtlinge zwei junge Männer in den Armen. „Schnell, auf die Liege“, sagt Ramon, ein zweiter Arzt kommt dazu. Die Männer rufen. Die Jungen seien geschlagen worden von der mazedonischen Polizei. Einer von ihnen weint laut. Dem anderen ziehen die Helfer die Jacke hoch, auf seinem Rücken ist die Haut rot gefärbt. Draußen vor dem Zelt erzählen Flüchtlinge, dass der Syrer und der Iraker in dieser Nacht durch das Grenztor gelassen wurden. Nach der Kontrolle aber hätten die mazedonischen Polizisten ihn in ein Zelt gebracht. Auf der griechischen Seite hätten die Menschen Schreie gehört, auch Schläge. Erst nach mehreren Minuten seien die Männer zurück auf die griechische Seite gebracht worden.

Die griechischen Polizisten vor dem Zaun wollen dazu nichts sagen. „Das sei Sache der Polizei auf der anderen Seite.“ Die Flüchtlinge sagen, dass sich die jungen Männer vor einigen Tagen an den Demonstrationen vor dem Grenzzaun beteiligt hätten. Es flogen Steine auf die Polizei, die Mazedonier antworteten mit Tränengas.

Es ist mittlerweile weit nach Mitternacht in Idomeni. Miquel Ramon kommt aus dem Ärztezelt. Er sagt, dass die beiden Männer geschlagen worden seien. Auch Spuren von Elektroschockern seien auf der Haut zu erkennen. Mehrere Fälle dieser Gewalt hätten die Ärzte bereits an die Vereinten Nationen berichtet. Vor allem im Dezember, als mehrere Marokkaner und Iraner versucht hätten, illegal über die Grenze nach Mazedonien zu gelangen. Eine Krankenschwester sagt, dass die Schwellungen nur eine Seite seien. „Schlimmer ist das Trauma, das diese Gewalt hinterlässt.“