Der Ökonom und Migrationsexperte Thomas Straubhaar warnt vor einer Überschätzung der Folgen durch Zuwanderung – sowohl Ängste als auch Hoffungen seien übertrieben

Die Flüchtlingsströme sind eine gewaltige Herausforderung für alle – für die Asylsuchenden und deren Angehörigen wie für die Aufnahmegesellschaft, die darauf schlicht nicht vorbereitet ist. Wenn, wie 2015, fast 1,1 Millionen Personen in Deutschland Asyl suchen, ist das auch für ein wohlhabendes Land keine Bagatelle. Selbst wenn bei Weitem nicht alle Gesuche bewilligt werden und viele Flüchtlinge weiterziehen oder nach Hause zurückkehren, müssen zusätzliche Kapazitäten in Kindergärten und Schulen, im Gesundheitswesen oder bei der Infrastruktur aus dem Boden gestampft werden.

Weniger ist es fremdenfeindlich als vielmehr logisch, dass die Interessen der unmittelbar betroffenen Bevölkerung in den sozialen Brennpunkten und die Interessen der zwangsläufig auf öffentliche Unterstützung angewiesenen Flüchtlinge heftig aufeinanderprallen. Wer selber von staatlicher Hilfe lebt, fürchtet, dass die Integrationskosten für Flüchtlinge die Staatskassen zusätzlich belasten. So, dass weniger Geld für anderes zur Verfügung steht, etwa für die Altenpflege, die Arbeitslosen oder strukturschwache Regionen.

Fakt ist aber auch, dass die Auswirkungen der Flüchtlingszuwanderung überschätzt werden. Weder sind die Asylsuchenden Verursacher unlösbarer Probleme, noch sind sie die Lösung für bestehende Probleme. Weder sind die Integrationskosten der Grund für die (zu) hohe Staatsverschuldung oder die sich abzeichnenden Probleme des Sozialstaates, noch werden die Flüchtlinge in der Lage sein, die Fachkräftelücke zu schließen.

Weniger die Flüchtlingszuwanderung ist das deutsche Problem, als vielmehr die Art und Weise wie Deutschland mit dem Thema umgeht und wie unversöhnlich darüber mit Wut und Hass gestritten wird. Vor allem die bürgerliche Mitte lässt sich verunsichern. Sorgenvoll wird gezweifelt, ob angesichts einer Million Asylsuchender das Boot überquelle und ob Deutschland es schaffen könne, die Flüchtlingswelle zu bewältigen. Wieso eigentlich?

Es wäre höchste Zeit, Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Viele Bewertungen spiegeln nicht objektive Effekte für die Gesamtwirtschaft, sondern die subjektive Betroffenheit Einzelner. Die Netto-Effekte der Zuwanderung sind weit bescheidener als es die aufgeregte Debatte glauben lässt. Das gilt selbst mit Blick auf die durchaus beträchtlichen Flüchtlingsströme.

Deutschland hat bereits in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders oder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt, wie sich Millionen von Weltkriegsflüchtlingen, Gastarbeiter, Rück- und Übersiedler erfolgreich integrieren lassen. Alleine zwischen 1989 und 1995 kamen Jahr für Jahr mehr als eine Million Zuwanderer. In der Summe betrug die Netto-Zuwanderung (also um die Fortzüge korrigiert) zwischen 1989 und 1995 3,8 Millionen. Entsprechend wuchs zwischen 1989 und 1995 die Bevölkerungsgröße in Deutschland um 2,7 Millionen, jene in Westdeutschland sogar um 3,7 Millionen. Die starke Zuwanderung in der Nachkriegszeit oder am Ende des Kalten Kriegs hat dem Land nicht geschadet. Im Gegenteil: Sie war mit verantwortlich dafür, dass es den Deutschen heute so gut geht.

Deutschland wäre mehr Gelassenheit bei der Flüchtlingsdebatte zu wünschen. Kurzfristig wird die zusätzliche Nachfrage der Flüchtlinge die Konjunktur positiv beeinflussen, wenn auch eher schwach denn stark. Mittelfristig wird ein Land mit einer Bevölkerung von 81,5 Millionen auch eine starke Zuwanderung ohne existenzielle Probleme verkraften können.

Eine Flüchtlingspolitik des nüchternen Pragmatismus müsste auf der globalen Ebene die Ursachen der Flüchtlingsmigration in den Herkunftsregionen beseitigen. Das ist eher eine Aufgabe für Jahrzehnte, und sie wird viel Geld kosten. Auf europäischer Ebene muss wieder geltendem Recht befolgt werden, was bedeutet, dass die EU-Außengrenzen zu sichern und dort an Ort und Stelle des Eintritts nach Europa das Asylverfahren zu konzentrieren und anerkannte Flüchtlinge mit klugen Anreizsystemen innerhalb der EU zu verteilen sind. Ein europäischer Kompromiss wird aber dauern und zusätzliche Kosten verursachen.

Auf deutscher Ebene ist das Anerkennungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen. Wer abgelehnt wird, muss schnell abgeschoben werden. Wer bleiben darf, muss eine bessere Bleibeperspektive als bisher erhalten. Arbeit und Bildung sind dabei die Schlüssel zu mehr Wohlstand für alle.

Alle drei Ebenen einer pragmatischen Flüchtlingspolitik sind gleichzeitig anzugehen. Das ist teuer. Versäumnisse jedoch werden teurer.