Passau. Passau trägt in der Flüchtlingskrise die Hauptlast in Deutschland. Hier endet die Balkanroute. Doch statt Chaos herrscht vor allem Gelassenheit. Wie lange noch?

Der erste Tag im gelobten Land beginnt für Fara auf einer Bierbank in „Bearbeitungslinie 2B“, Halle 2. Neben der Frau aus Syrien hockt ihre sieben Jahre alte Tochter. Vor ihr sitzen Polizist Dirk Matzken und Dolmetscherin Dunya Alasam. Matzken blättert durch Faras Pass, schaut auf das Foto, die Stempel. „Ist echt, nicht gefälscht.“ Dann hat er noch ein paar Fragen, Alasam übersetzt ins Arabische. Faras Antworten entscheiden darüber, ob sie nach Deutschland einreisen darf, in Richtung Asyl. Oder ob sie in die „Bearbeitungsspur Z“ muss. Z wie Zurückweisung. Zurück nach Österreich.

Wo ist der Vater des Kindes?

Der ist auch auf der Flucht nach Europa. Aber alleine, wir leben getrennt. Meine Tochter bleibt bei mir.

Werden Sie von ihm verfolgt?

Nein. Die Trennung wollten beide.

Ist Deutschland Ihr Ziel?

Ja. Ich möchte nach Deutschland.

Warum möchten Sie hierher?

Fara, gerade Mitte 20, erzählt, dass sie wegen des Krieges nicht mehr in Syrien leben könne. Ihre Heimatstadt Aleppo sei zerstört, die Islamisten kämpfen dort. Ihre Eltern seien nach Libyen geflohen. Polizist Matzken fragt noch etwas mehr, notiert die Aussagen auf einem Formular, lächelt, als Faras Tochter auf der Bierbank balanciert.

Dann bittet Matzken die beiden einen Tisch weiter. Dort stehen andere Beamte an einem Gerät. Fara hält ihre Finger auf einen Kasten mit einem grünen Laser, danach schaut sie starr in eine Kamera. Der Computer der Polizisten schiebt ihr Passbild in Raster auf dem Schirm, speichert die Fingerabdrücke in der Datenbank der Polizei und der EU-Staaten. In der Halle, in der vor einiger Zeit noch Passauer KfZ-Mechaniker Laster reparierten und die nun durch Absperrgitter und Planen in eine Art riesiges Grenzpolizeibüro umgebaut ist, bekommt Fara eine Nummer. J18/2801/0845/A2/B10.

Sie ist jetzt registriert.

Noch vor einer Woche kauerte Fara mit ihrer Tochter in einem Schlauchboot in Richtung Griechenland. An diesem Morgen Ende Januar erreichten sie mit dem Bus Passau. Die Polizei aus Österreich hatte sie und 50 andere Menschen kurz hinter der Grenze an die deutschen Beamten übergeben.

Jede Stunde fährt ein Bus aus Österreich los, so sei es abgesprochen, sagt ein Bundespolizist, und biegt auf den Hof des alten KfZ-Mechanikers ein, in die „Registrierungsstraße“.

So nennen die Behörden die Kon­trollstelle, die Mitte Januar ihre Arbeit aufgenommen hat. Polizisten arbeiten hier, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, hat Büros eine Halle weiter. Auch Soldaten der Bundeswehr helfen in den Hallen und an den Scannern für die Fingerabdrücke. 20 bis 40 Flüchtlinge schickt die Bundespolizei derzeit täglich zurück nach Österreich. Vor allem, wenn sie nicht in Deutschland Asyl beantragen wollen.

Passau ist Deutschlands Hotspot in der Flüchtlingskrise. 300.000 Menschen reisten allein in den vergangenen drei Monaten des Jahres 2015 über die Stadt in die Bundesrepublik ein. Sechsmal mehr als Passau Einwohner hat. Anfangs kamen sie zu Tausenden unregistriert zu Fuß über die Grenze und versteckt in Kleinbussen der Schleuser, die sie auf den Autobahnraststätten absetzten. Gruppen irrten über die Standstreifen. Chaostage in Bayern. Später kamen sie in Bussen, die der Staat gemietet hatte. In der Hochzeit waren es 8000 am Tag, im Dezember noch 3000. Viele wurden weitergeschickt in andere Bundesländer. Passau war das „Lampedusa Deutschlands“.

Die Republik diskutiert das „Flüchtlingschaos“, andere sprechen von „unkontrollierter Asylflut“. Ein Polizist in Passau sagt: „Im Moment ist eigentlich alles ruhig.“ Zuletzt transportierten die Österreicher zwischen 500 und 1000 Menschen nach Deutschland. Gestern waren es 386. Und neulich war erst von ein paar Hundert die Rede – doch bis zum Abend kam kein Einziger. „Wir wissen auch nicht, was da los war“, sagt der Polizist. Berechenbar ist die Krise auch im Winter nicht. Bleibe es aber bei 500 bis 1000 Menschen am Tag, sei das gut zu schaffen. Und werden es mehr? Der Polizist hebt die Augenbrauen. Schaffen wir das? Es ist die Leitfrage eines Landes, das hin- und hergerissen ist in der Debatte zwischen Willkommens­enthusiasten und Fremdenhassern.

300.000 Flüchtlinge in drei Monaten. Schafft Passau das 2016 noch einmal? Jürgen Dupper sagt: Ja. Überhaupt redet er recht gelassen in seinem Büro im Rathaus über 2015. Seine Worte sind nicht ganz unwichtig, denn Dupper ist hier Bürgermeister. Ein Sozialdemokrat mit Vollbart und Bauch.

Noch am Tag, als Merkel Tausende zusammengepferchte Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof nach Deutschland holte, rief Dupper einen Krisenstab ein. Mit Polizei, Feuerwehr, Rotem Kreuz und anderen Helfern. Sie kannten Krise ja noch von der Donauflut 2013. 2015 organisierten 50 Mitarbeiter zusätzlich den Andrang der Menschen. Beamte, Hausmeister, Stadtgärtner, Freiwillige. „In einer Krise brauchst du Menschen mit Herz. Und du brauchst Pragmatiker“, sagt Dupper. Vielleicht ist Dupper ein Pragmatiker mit Herz. Sicher aber ist er ziemlich rot im tiefschwarzen CSU-Bayern. Pegida hat es nie bis Passau geschafft. Vielleicht liegt es am Krisenmanagement.

Genervt seien manche hier nicht von den Flüchtlingen, sondern eher durch die Staus auf der Autobahn, wegen der Grenzkontrollen, sagt Dupper. „Den wirklich langen Atem brauchen wir bei der Integration.“ In der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, im Alltag. Da spüre er Sorgen bei den Passauern. Klar müsse auch sein: „Wer unser Grundgesetz missachtet, hat hier nichts verloren.“ Nach der Silvesternacht in Köln kommt auch Dupper nicht mehr um ein paar Sätze Seehoferisch herum.

Von Obergrenzen hält er aber nichts. Auch nichts von dem „Quersteuern“ der bayerischen Landesregierung gegen die Kanzlerin. Europa tue so, als rollten „Armeen über das Mittelmeer auf uns zu“. Er sehe da vor allem „arme Leute mit Plastiktüten“. Kam Horst Seehofer eigentlich mal nach Passau? „Nein“, sagt Dupper.

Von den Armen mit Plastiktüten sieht man an einem Januarvormittag niemanden in der Passauer Altstadt, nur in der Einkaufspassage sitzen ein paar junge Männer aus Nahost. Die Meinung der Menschen in der Stadt ist so verschieden wie die Debatte in der ganzen Republik. Beim Bäcker sagt eine Frau, dass sie die Flüchtlingskrise vor allem aus dem Fernseher kenne. Neulich allerdings, da habe sie verschleierte Frauen an der Bushaltestelle gesehen. „Das fand ich befremdlich. Das geht nicht.“ Eine Kioskverkäuferin sagt, dass alles „easy“ sei, eine andere sagt, es sei „so und so“. Mehr möchte sie lieber nicht sagen. Und eine Studentin erzählt, dass sie bei ihrem Aushilfsjob im Kleiderladen jetzt häufiger Englisch sprechen müsse. Aber man kenne das ja von den 400.000 Touristen jedes Jahr in Passau. Abends hilft die Studentin dann am Güterbahnhof.

Dort steht in dieser Nacht auch Wolfgang Schwenk in einem Zelt und fragt die Männer in der Schlange, zu wem das junge Mädchen gehöre. „You? Father?“ Handzeichen wandern durch die warme Luft im Zelt, dann kommt der Vater zurück. Um 23.35 Uhr fährt der nächste Sonderzug mit Flüchtlingen, diesmal nach Hannover. Drei sind es pro Tag. „Derzeit sind die aber oft nur halb voll“, sagt Schwenk.

Er sieht ein bisschen aus wie Bürgermeister Dupper. Und oft sagt er auch dieselben Sätze. Wenn es um Obergrenzen geht. Oder um Seehofer. Nur überrascht das bei Schwenk weniger, weil er die Hilfe für die Flüchtlinge am Bahnhof organisiert. 2000 Freiwillige haben sich bei Schwenk gemeldet, 100 gehören zu denen, die jede Woche da sind. Brötchen schmieren, Tee ausschenken, Asphalt fegen. Und alles von vorne, wenn der nächste Bus aus der „Registrierungsstraße“ ankommt.

Zuletzt waren häufig Reporter bei Schwenk. Ob die Helfer durchhalten? Ob es Ärger mit arabischen Männern gebe? Schwenk sagt, dass er immer unspektakulär antworten müsse. „Es gibt schon stressige Tage, klar.“ Aber durchhalten müssten vor allem die Geflohenen. Das Aushalten ihrer Geschichten sei vielleicht das Anstrengendste.

Der Rentner Herrmann schiebt jetzt Zwölf-Stunden-Schichten

Aushalten muss auch Manfred Herrmann gerade vieles. Kinder, die schreien. Frauen, die zusammenbrechen. Vor Erschöpfung, vor bösen Erinnerungen. „Wenn Sie das noch nicht erlebt haben …“, sagt er. Herrmann schiebt Zwölf-Stunden-Schichten. Dabei war er eigentlich längst im Ruhestand, 71 Jahre alt, und der weitere Plan: Lebensabend genießen mit seiner Frau im flachen Friesland. Dann kam Anfang Januar ein Anruf vom BAMF. Und damit der Ausnahmezustand in Manfred Herrmanns Leben.

Ob er nicht helfen könne bei der neuen Stelle in Passau. Das Flüchtlingsamt sucht händeringend Mitarbeiter. Früher arbeitete Herrmann im Verteidigungsministerium. Und er sagte zu. Weil ihn die Bilder von der Flucht nicht kalt ließen. Weil er etwas zurückgeben wolle für den Wohlstand, den ein Leben in Deutschland bringt. Einen Tag nach dem Anruf reiste Herrmann zum Einstellungsgespräch nach Nürnberg. Drei Tage später stand er in der alten Mechaniker-Halle in Passau.

Drei Wochen ist das her. Heute warten gerade nur eine Hand voll Flüchtlinge auf den nächsten Bus, eine machbare Zahl von ihnen schickte die Polizei in den vergangenen Tagen aus ihren „Bearbeitungslinien“ ein Haus weiter in seine BAMF-Stelle. Herrmann hat in diesen Tagen etwas Zeit. Um die Abläufe zu sortieren, die Technik, die Infrastruktur. Die eigenen Emotionen. 30 Mitarbeiter hat das BAMF in Passau neu eingestellt, 50 Soldaten der Bundeswehr helfen. Jeden Tag funktioniere die Registrierung ein Stück besser, sagt Herrmann. Und wenn er einen „schwachen Moment“ habe, dann muntere ihn die Dankbarkeit der Menschen auf.

Er hat beim Staat einen Vertrag für sechs Monate unterschrieben. Mit der Option, zwei Jahre zu verlängern. Manfred Herrmann, eben noch Rentner, leitet jetzt eine Minibehörde. Er organisiert Deutschlands Ausnahmezustand.