Warschau.

Am Denkmal des Warschauer Aufstands ist Sigmar Gabriel für einen Moment sichtlich bewegt. In sich gekehrt steht der Wirtschaftsminister im eisigen Wind, während ein Trompeter die Melodie eines Trauermarsches bläst. Es ist ein besonderer Ort im Zentrum der polnischen Hauptstadt, an dem Gabriel einen Kranz niederlegt: Das Denkmal erinnert an den zwei Monate dauernden Aufstand polnischer Bürger gegen die deutsche Besatzungsmacht 1944. Die Erhebung kostete Zehntausende Menschen das Leben, heute ist sie eines der wichtigsten Symbole für den Freiheitswillen der Polen. „Wir haben schwierige Zeiten hinter uns“, sagt der Vizekanzler, als er das Denkmal verlässt, „trotzdem hat sich Polen immer an Europa orientiert.“

Die Reise des Vizekanzlers ist Teil einer Gesprächsoffensive

Der Minister und SPD-Chef ist für einen Tag in das Nachbarland gefahren, um in aufgewühlten Zeiten ein Signal für die deutsch-polnische Verständigung zu setzen. Polen liegt ihm am Herzen, Dutzende Male war er schon hier, hat Freunde gewonnen und sagt: „Ich mag das Land ungeheuer.“ Das Gedenken an den Aufstand ist eine besondere Geste, Gabriel erklärt sie wenig später mit einer eindringlichen Botschaft: „Wir müssen Polen umarmen, nicht verstoßen.“ Bei allen Meinungsverschiedenheiten solle alles dafür getan werden, nicht Gräben aufzureißen oder gar in „nationales Bashing“ zurückzufallen.

Das ist die Mahnung, die er bei seinen Treffen mit Staatspräsident Andrzej Duda, mit Vizepremier Mateusz Morawiecki und Energieminister Krzysztof Tchorzewski hinterlässt. Der Besuch ist Teil einer ungewöhnlichen Gesprächsoffensive von SPD-Politikern. Erst vor einer Woche war Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) in Warschau zu Gast bei seinem polnischen Kollegen, um die Nähe beider Länder zu bekräftigen. Und zeitgleich mit Gabriel hält sich SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan in Polen auf, um Gespräche mit Regierung und Opposition zu führen.

Viel hat sich zuletzt angestaut, was das Verhältnis belastet. Da ist die Sorge in Berlin und in der EU, die neue nationalkonservative Regierung gefährde durch Reformen des Verfassungsgerichts und der Medien rechtsstaatliche Grundsätze; die EU hat bereits ein Prüfverfahren eingeleitet. Gabriels Parteifreund Martin Schulz sieht Polen auf dem Weg zu einer „Putinisierung“, was in Warschau besonders schlecht ankommt – wegen der kritischen Töne aus Deutschland hat das polnische Außenministerium den deutschen Botschafter zum Gespräch gebeten. Der europäische Kultursender Arte andererseits hat wegen des umstrittenen Mediengesetzes gerade erst seine Zusammenarbeit mit dem polnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen eingestellt. Nur wenige Stunden vor Gabriels Besuch beschloss das polnische Parlament in der Nacht auch noch die Zusammenlegung von Justizministerium und Generalstaatsanwaltschaft.

Eine eher unrühmliche Rolle spielt Polen aus deutscher Sicht zudem in der europäischen Flüchtlingspolitik: Nur 400 Flüchtlinge will das Land mit seinen fast 40 Millionen Einwohnern in diesem Jahr von der EU übernehmen. Die Hoffnung, dass Polen seine restriktive Haltung in dieser Frage aufgibt, hat Gabriel bereits verloren. Aber er mahnt in seinen Gesprächen mit der Regierung eindringlich, das Land solle einen Beitrag zur gemeinsamen Sicherung der EU-Außengrenzen leisten.

Und dann ist da noch der Streit um das Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream II von Russland nach Deutschland – Gabriel befürwortet das Vorhaben, erst Ende Oktober sprach er mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau darüber, was ihn in polnischen Augen eher verdächtig macht. In der Ukraine herrsche Krieg, und gleichzeitig werde über ein solches Projekt gesprochen, klagt Vizepremier Morawiecki nach dem Treffen mit Gabriel: „Das macht uns Kummer.“ Schon am Morgen hatte der polnische Energieminister seinem deutschen Kollegen eine brisanten Hinweis übermittelt: Wenn Berlin Solidarität in der Flüchtlingskrise fordere, erwarte Warschau auch Solidarität bei der Gaspipeline.

Für Polen ist die Gasversorgung eine Frage der Sicherheit, die durch die Pipeline gefährdet wird. Gabriel dagegen betont die wirtschaftlichen Aspekte und verweist auf freie unternehmerische Entscheidungen. Der Wirtschaftsminister spricht von „unterschiedlicher politischer Beurteilung“ des Gasproblems, doch sichert er zu, polnische Interessen und Bedenken würden bei dem Projekt berücksichtigt. Das Muster zieht sich durch alle Begegnungen. Gabriel weicht den Differenzen nicht aus, aber er will verhindern, dass sich Fronten verhärten. „Ja, es gibt Meinungsverschiedenheiten, auch schwere“, sagt er in einer Pressekonferenz mit dem Vizepremier. Doch sei er überzeugt, dass es gelinge, die Probleme auszuräumen.

Und er erinnert auch an die traditionell guten Wirtschaftsbeziehungen, die beide Länder verbinden. „Deutsche und Polen werden ganz enge Freunde bleiben“, versichert der Vizekanzler. „Wir sind zu unserem Glück vereint.“ Später fliegt er, der hier stets als Bundeskanzler angesprochen wird, nach Breslau weiter.