Brüssel.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg pocht auf Einhaltung der Nato-Vorgaben für die Rüstungsausgaben – und lobt die Pläne von Verteidigungsministerin von der Leyen (CDU). Die deutschen Bedenken wegen eines Nato-Einsatzes mit Awacs-Aufklärern gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ hält der Norweger für unbegründet.

Abendblatt: Herr Generalsekretär, in der Fernsehserie „Occupied“ gerät Ihre Heimat unter Kontrolle der Russen. Wie realistisch ist das Szenario ?

JensStoltenberg: Das ist reine Erfindung. Norwegen hatte immer gute Beziehungen mit Russland, sogar im Kalten Krieg. Und zwar nicht trotz, sondern wegen der Nato. Die hat einem kleinen Land wie Norwegen die nötige Sicherheit im Umgang mit dem großen Nachbarn gegeben. Das gilt auch für die ganze Nato: Wenn wir standfest bleiben, können wir mit Russland ein vernünftiges Verhältnis unterhalten. Eigene Stärke ermöglicht den Dialog – Helmut Schmidt nannte das Doppelstrategie.

Es brennt vor den Toren Europas, vor allem im Osten und Süden. Die Stimmung zu Jahresbeginn ist düster. Gibt es irgendetwas, das Sie ermutigt?

Stoltenberg: Stimmt – die Welt ist gefährlicher geworden. Aber zugleich ist die Nato stärker. Wir haben uns auf die neuen Bedrohungen eingestellt: Die Verdreifachung unserer Einsatzkräfte mit superschneller „Speerspitze“ ist die größte Verstärkung der Verteidigungsbereitschaft seit dem Kalten Krieg.

Deutschlands Streitkräften fehlt es an Ausrüstung und Personal. Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels spricht von „planmäßiger Mangelwirtschaft“. Was erwartet die Nato von Deutschland?

Stoltenberg: Deutschland ist ein verlässlicher Verbündeter. Es leistet wichtige Beiträge zur gemeinsamen Verteidigung und bei Einsätzen wie in Afghanistan oder im Kosovo. Dafür bin ich dankbar. Aber es gibt Defizite. Deutschland und andere Bündnispartner müssen mehr tun, um die Mängel und Lücken zu beseitigen.

Wie viel Sorgen machen Ihnen unpräzise Gewehre, veraltete Transportmaschinen und nachtfluguntaugliche Tornado-Aufklärer?

Stoltenberg: Ich begrüße, dass Deutschland die Mängel transparent macht und angeht. Zahlen und Fakten werden öffentlich gemacht – und dann müssen diese Mängel beseitigt werden. Auch deswegen haben wir beschlossen, mehr für die Verteidigung auszugeben. Nach dem Ende des Kalten Krieges gingen die Wehretats zurück – verständlich. Aber jetzt wachsen die Spannungen wieder, und die Ausgaben müssen mitwachsen.

Die Nato-Staaten haben sich verpflichtet, zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Deutschland schaffte 2015 nur 1,16 Prozent . . .

Stoltenberg: Ich setze darauf, dass alle Verbündeten sich an die Vorgabe halten, die wir gemeinsam beschlossen haben. Das gilt auch für Deutschland, die größte Wirtschaftsnation in Europa. Was Deutschland tut, zählt. Deswegen begrüße ich die Ankündigungen von Verteidigungsministerin von der Leyen, dass die Verteidigungsausgaben steigen werden. Die meisten europäischen Alliierten haben 2015 die Kürzungen gestoppt. Das ist ein Anfang. Niemand verlangt, dass Deutschland schon dieses Jahr die zwei Prozent erreicht.

Wann denn?

Stoltenberg: Deutschland sollte die Verpflichtung binnen einem Jahrzehnt erreichen. So hat es der Nato-Gipfel 2014 beschlossen: Schluss mit kürzen, langsam steigern, zwei Prozent anpeilen. Das ist ein langer Weg, Deutschland hat immerhin den ersten Schritt getan.

Sie fahren in wenigen Tagen zur Münchner Sicherheitskonferenz. Die stimmt die Teilnehmer mit einem Bericht ein, der den Titel trägt „Endlose Krisen, rücksichtlose Quertreiber, ratlose Wächter“. Wie ratlos ist die Nato?

Stoltenberg: Wir sind nicht ratlos, sondern wir sind und bleiben das erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte.

Wolfgang Ischinger, der Chef der deutschen Sicherheitskonferenz, sieht die Welt dennoch in der gefährlichsten Lage seit Ende des Kalten Krieges. Teilen Sie den Befund?

Stoltenberg: Ich stimme Ischinger zu. Man kann in der Tat nicht erkennen, dass wir seither schon einmal eine derartig bedrohliche Lage hatten. Und sie wäre wirklich schlimm, wenn die Nato keine Antworten hätte. Aber wir haben uns an die neue Gefahrenlage angepasst und werden das weiter tun. Nicht zuletzt dank der deutschen Beiträge zu höherer Einsatzbereitschaft und verstärkter Präsenz im Osten der Nato.

Vor neun Jahren schockierte Präsident Wladimir Putin die Münchner Konferenz mit einer antiwestlichen Brandrede. Den aggressiven Worten folgten aggressive Taten. Was erwarten Sie dieses Jahr von den Russen?

Stoltenberg: Wir brauchen einen Abbau der Spannungen in Europa, und Russland trägt dafür besondere Verantwortung. Vor allem für die vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens.

Sehen Sie denn in Moskau Bereitschaft zum Spannungsabbau?

Stoltenberg: Wir haben es mit einem entschlosseneren Russland zu tun, das nicht zurückschreckt, militärische Gewalt anzuwenden. Wir haben es in der Ukraine erlebt. Zugleich müssen wir uns weiter um politische Verhandlungslösungen bemühen – wie die Bundeskanzlerin und Außenminister Steinmeier das ja tun.

Wie ist die aktuelle Lage in der Ukraine?

Stoltenberg: Die Lage in der Ukraine ist wackelig, eine Mischung aus Rück- und Fortschritt. Im Herbst wurde der Waffenstillstand überwiegend eingehalten, jetzt gibt es wieder zahlreiche Verletzungen. Schwere Waffen, die abgezogen waren, werden an die Front zurückgebracht. Und natürlich steht die vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens weiter aus.

Die größte Sorge gilt derzeit dem unübersichtlichsten Schlachtfeld Syrien. Sehen Sie einen Ausweg, gibt es einen Friedenspfad à la Stoltenberg?

Stoltenberg: Der Pfad zum Frieden führt über die Genfer Verhandlungen. Ich mache mir keine Illusionen: Das wird kein leichter oder schneller Ausweg, aber die Alternative – Fortsetzung des Krieges – ist unerträglich. Wir brauchen einen Waffenstillstand, den Übergang zu einer neuen Verfassung und Wahlen.

Was ist das größte Hindernis?

Stoltenberg: Es besteht darin, dass sich so viele Pro­bleme überlagern: die Gräueltaten des „Islamischen Staates“, die Gewalt des Assad-Regimes, Hass und Misstrauen unter den zahlreichen kämpfenden Gruppierungen.

Kann die Nato den IS überhaupt mit herkömmlichen Mitteln bekämpfen?

Stoltenberg: Der „Islamische Staat“ ist kein normaler Feind, sondern eine brutale Terrororganisation, die alles attackiert, woran wir glauben.

Warum sind Terrorattacken wie die in Paris kein Bündnisfall für die Nato?

Stoltenberg: Wir haben viele Terroranschläge erlebt, in London, in Madrid und anderen europäischen Städten. Der Bündnisfall nach Artikel V des Nato-Vertrages wurde nur einmal ausgerufen, nach dem 11. September 2001. Aber wir bekämpfen den IS auch ohne Artikel V.

Die USA fordern eine verstärkte Beteiligung der Nato, nämlich den Einsatz von Awacs-Aufklärungsflugzeugen, in denen auch deutsche Soldaten Dienst tun. Welchen Sinn hätte ein direktes militärisches Eingreifen des Bündnisses?

Stoltenberg: Wir sind dabei, den Wunsch der USA zu prüfen, und werden darüber gemeinsam entscheiden. Dem kann ich als Generalsekretär nicht vorgreifen. Aber was die deutschen Sorgen angeht – Deutschland ist Nato-Mitglied und beteiligt sich bereits am Kampf der internationalen Koalition gegen den IS. Dies ist kein Feldzug des Westens gegen die muslimische Welt. Dies ist ein Kampf gegen Verbrecher, Terroristen und barbarische Gewalt, ein Kampf, den Länder wie der Irak, Tunesien und Afghanistan unterstützen.

Auch die Beteiligung der Awacs-Staffel würde ihn nicht zu einem „Krieg des Westens“ machen?

Stoltenberg: Ich sehe das jedenfalls nicht. Schon jetzt sind ja alle Verbündeten unter Führung der USA an der „Koalition der Willigen“ beteiligt.

Im Juni trifft sich die Nato zum Gipfel in Warschau. Danach, haben Sie gesagt, werde es „mehr Nato in Polen“ geben. Wie sieht das aus?

Stoltenberg: Es geht um verschiedene Formen der Bündnispräsenz. Die haben wir ja schon verstärkt. Die Entscheidung über Weiteres trifft der Gipfel.

Aber eine dauerhafte Präsenz von Kampftruppen wird es nicht geben?

Stoltenberg: Alles, was wir machen, ist defensiv, verhältnismäßig und entspricht hundertprozentig unseren internationalen Verpflichtungen.