Berlin.

Es glaube ihm ja keiner, sagt Sigmar Gabriel. „Aber die Stimmung ist gut.“ Gerade hatte die große Koalition das Asylpaket II unter Dach und Fach gebracht. CDU, CSU und SPD einigten sich am Donnerstag darauf, den Familiennachzug für einige Flüchtlinge zwei Jahre lang auszusetzen. Das betrifft Menschen, die nur „subsidiären Schutz“ genießen. Sie haben keinen individuell begründeten Flüchtlingsstatus, dürfen aber etwa wegen einer Bürgerkriegssituation bleiben. Für sie hatte die Koalition am 5. November beschlossen, den Familiennachzug einzuschränken. Aber weil hinterher Unklarheit darüber herrschte, wie groß der Personenkreis war, kam man drei Monate lang nicht voran. Auch gestern war es nicht leicht. Stundenlang zogen sich die Gespräche zwischen Gabriel, CSU-Chef Horst Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hin. Zwischendurch wurden sie am späten Nachmittag unterbrochen, weil man erst einmal aufschreiben lassen wollte, was verabredet wurde. Zur Sicherheit. Um Missverständnissen vorzubeugen.

Der Familiennachzug ist die Folgewelle nach dem Flüchtlingsstrom. Erst kommen überwiegend jüngere Männer, danach Frauen und Kinder. Es gibt keinen festen Faktor, den man zugrunde legen kann. Mal zwei, mal vier?

Mit 0,5 kalkuliert Seehofer. Das ist keine gewagte Planungsgröße. Nur jeder zweite Flüchtling würde demnach einen Verwandten nachholen. Für Seehofer wären es immer noch zu viele. Deshalb hatte er so auf den Kompromiss vom November beharrt. Er war damals wie gestern die treibende Kraft.

Die gestrige Einigung bedeutet nicht, dass die Angehörigen der Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden. Sie hat nur zur Folge, dass sie zwei Jahre lang kein Recht haben, ihren Zuzug an deutschen Botschaften zu beantragen und regulär einzureisen.

Die Grünen sind empört. Die Einschränkungen führten dazu, „dass sich vermehrt auch Frauen und Kinder auf eine unsichere Flucht begeben“, so ihr Innenpolitiker Volker Beck. Die Erfinder solcher Regelungen würden den drohenden Tod durch Ertrinken in Kauf nehmen. Beck: Eine „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Schleuser“.

Zum Asylpaket II gehören neben dem Familiennachzug der Aufbau von Registrierungszentren, um den Zuzug besser zu ordnen, sowie schärfere Richtlinien, um abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Krankheit sollte nicht vor Abschiebung schützen. Angepeilt wurden „qualifizierte Kriterien“ für eine „ärztliche Bescheinigung“.

Da seit November ein Gesetzentwurf vorliegt, dürfte die Regierung nach der gestrigen Einigung keine Zeit verlieren und ihn durch Bundestag und Bundesrat bringen. Zumal schon das Asylpaket III geplant wird. Damit sollen die Behörden dazu ermächtigt werden, den Flüchtlingen Auflagen zu erteilen, an bestimmten Orten zu bleiben. Schon gestern warb Merkel bei den Ministerpräsidenten der Länder überdies für ihr Vorhaben, nordafrikanische Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären.

Die Einstufung hätte Folgen. Die Anträge der Menschen aus dieser Region werden jetzt schon vorrangig bearbeitet und könnten künftig noch schneller als bisher abgelehnt werden. Die Gesetzesänderung ist im Bundesrat zustimmungspflichtig. Dort könnte sie von rot-grün regierten Ländern blockiert werden. Allem Anschein nach gelingt es, die Bedenken insbesondere der Grünen zu zerstreuen.

Sichere Herkunftsstaaten? Aus denLändern kommen eher positive Signale

Es gibt Signale, dass sie die Gesetzesverschärfung nicht aufhalten wollen, wenn der Bund im Gegenzug mehr zur Integration der Flüchtlinge unternimmt. Dazu haben NRW und Rheinland-Pfalz ein Programm beantragt. Sie wollen mehr Hilfen, um Kindergärten und Kitas auszubauen oder um Lehrer und Sozialarbeiter einzustellen. Kostenpunkt: mehr als fünf Milliarden Euro. „Wir müssen endlich auch zu einem gemeinsamen Vorgehen kommen, was das Thema Integration der Menschen betrifft, die bei uns leben“, forderte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD).

Dass Merkel, Seehofer und Gabriel sich abermals mit dem Familiennachzug befasst haben, lag daran, dass sie am 5. November nur mit einem Scheinkonsens auseinandergegangen waren. Damals schien der Personenkreis der Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz äußerst klein zu sein. Der Status eines Flüchtlings wird in Einzelgesprächen festgestellt. Für die Syrer hatte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) diese sogenannte Einzelfallprüfung im Jahr 2014 aber außer Kraft gesetzt. Im November ging Gabriel im guten Glauben davon aus, dass die Syrer nicht dazugehörten und der Kreis der Betroffenen klein sein würde. Man sprach von 1300 bis 1700 Menschen. „Sind wir uns einig, dass die Syrer nicht dabei sind?“, fragte er. Merkel nickte – auch sie im guten Glauben.

Es stellte sich allerdings heraus, dass ihr Innenminister kurz zuvor das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angewiesen hatte, zur Einzelfallprüfung zurückzukehren. Die Folge wäre, dass mehr Syrer nur subsidiären Schutz erhalten und der Kreis der Betroffenen größer als ursprünglich angenommen sein würde. Gabriel fühlte sich getäuscht und nicht an die Geschäftsgrundlage gebunden.

Im Streit darüber vergingen drei Monate. Der entnervte de Maizière entwarf diverse Kompromissideen. Zuletzt war er bereit, den Familiennachzug auszuklammern. Am Ende blieb es bei der damaligen Verständigung – aber freilich mit einer Ergänzung. Sollte Deutschland demnächst Kontingent-Flüchtlinge übernehmen, hat der Familiennachzug Vorrang. Es werden die Menschen bevorzugt, die bereits Verwandte in Deutschland haben.