Berlin.

Jeden Morgen flattert in Kanzleramt und Innenministerium der Lagebericht der Bundespolizei rein. Analysen, Grafiken, Zahlen, Fakten, kurz, knapp, am Dienstag auf neun Seiten verdichtet, mit dem Stempel „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ versehen. Zum „Herrschaftswissen“ von Angela Merkel (CDU) gehört nun, dass die Realität dabei ist, die große Koalition zu überholen. Die Flüchtlinge haben es selbst in die Hand genommen, worüber Merkel erst morgen mit den Chefs von CSU (Horst Seehofer) und SPD (Sigmar Gabriel) beraten will: den Familiennachzug. Politisch geht es beim sogenannten Asylpaket II um gesetzliche Normen und Regeln. Aber die Menschen sind der Politik einen Schritt voraus. In dem Lagebericht verweist die Bundespolizei auf eine Auswertung des UN-Flüchtlingswerks UNHCR. Zum ersten Mal seit Beginn der Flüchtlingskrise waren im Januar Frauen und Kinder in der Mehrheit. Der Hauptgrund dafür liege im Familiennachzug.

„Vermutlich suchen männliche Migranten ihre Familien nachzuholen, bevor angekündigte Neuregelungen greifen, die höhere Voraussetzungen vorsehen“, so die Bundespolizei. Im Klartext: Sie warten keine Verfahren ab, stellen keine Anträge, sie regeln den Nachzug selbst. 55 Prozent der im Januar über Griechenland eingereisten Migranten waren Frauen und Minderjährige. Der UNHCR stellt einen „starken Anstieg“ fest und auch, dass Frauen und Kinder erstmals seit Beginn der Krise in der Überzahl waren. Im Juni 2015 betrug ihr Anteil noch 27 Prozent.

Der Trend bestätigt Befürchtungen der CSU. Seit Monaten drängt sie auf eine Einschränkung des Familiennachzugs. Gestern ermahnte die bayerische Staatsregierung in einem Beschwerdebrief das Kanzleramt, Recht und Ordnung an den deutschen Grenzen wiederherzustellen. „Wir haben es hier mit Rechtsverletzungen zu tun, und die müssen abgestellt werden“, schimpfte Ministerpräsident Horst Seehofer. Schaltet Merkel auf stur, wollen die Bayern klagen. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann fasste es als „Ankündigung des Koalitionsbruchs“ auf.

Dabei müssten Seehofer und Merkel nicht schriftlich verkehren. Sie treffen sich regelmäßig, morgen zweimal. Zum einen steht ein Treffen Merkels mit den Ministerpräsidenten der Länder an. Zum anderen will sie unter sechs Augen mit Seehofer und Gabriel über den Familiennachzug beraten. Nach ihrer ursprünglichen Absprache sollte er für Flüchtlinge mit dem geringsten – dem sogenannten subsidiären – Schutz für zwei Jahre ausgesetzt werden. Die SPD beruft sich aber auf eine Zusage Merkels, dass Syrer von dieser Regelung ausgenommen würden. Die Sozialdemokraten befürchten, was jetzt eingetreten ist: Dass sich Frauen und Kinder aus Syrien verstärkt zur riskanten Flucht über das Mittelmeer gezwungen sehen. Auch gibt Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) zu bedenken, dass der Familiennachzug für die Integration hilfreich ist. Allein geflüchtete Männer täten sich damit schwerer als Familien.

Derzeit kursieren Kompromissvorschläge. Ein Modell sieht vor, dass die Regierung in einer Verordnung Ausnahmen von der Aussetzung des Familiennachzugs festlegen soll – wenn etwa nachweislich Kinder vorhanden seien oder die Ehe schon längere Zeit besteht. Nach einer anderen Variante würde der Familiennachzug nur für ein Jahr ausgesetzt – im Gegenzug würde im Rahmen einer geplanten Kontingentlösung bevorzugt Familienangehörigen von bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen aus Nachbarländern Syriens die Einreise erlaubt. So lange mag CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt nicht warten. Schon um die Kommunen zu entlasten, will sie Familiennachzug umgehend einschränken.

Kern des Asylpakets sind ganz andere Themen, etwa neue Aufnahmeeinrichtungen, in denen bestimmte Gruppen von Asylbewerbern Schnellverfahren durchlaufen sollten. Geplant ist auch, Flüchtlinge an den Kosten zu beteiligen. Zugleich laufen bereits die Überlegungen für ein drittes Asylpaket. Darin würden Asylbewerber verpflichtet, an einem vorgeschriebenen Wohnort zu bleiben. In den Verhandlungen müsse auch über ein Ende des Kooperationsverbots für Bund und Länder in der Bildungspolitik gesprochen werden, sagte SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil. Der Bund müsse sich an den Kosten der Integration von Flüchtlingen in Kitas und Schulen beteiligen. Außerdem will die Regierung die Länder dafür gewinnen, afrikanische Länder wie Marokko oder Tunesien als sichere Herkunftsstaaten einzustufen, um Asylanträge rascher ablehnen zu können. Beraten wird auch, wie die Anerkennungsverfahren beschleunigt werden können, voraussichtlich auch über neue Fördermöglichkeiten für den Wohnungsbau.

Es wächst die Zuversicht, dass mit der Türkei die Verständigung auf eine Verringerung des Flüchtlingsstroms gelingen kann. Die Gespräche darüber seien vielversprechend verlaufen, hieß es in Regierungskreisen. Auch die EU-Kommission verbreitet Optimismus: „Es gibt enorme Fortschritte im Verhältnis zwischen der EU und der Türkei“, sagte der Vertreter der Kommission in Deutschland, Richard Kühnel.