Berlin.

Mehr als 25 Jahre nach der Wende wird der Osten als Lebensort immer attraktiver: Die Abwanderung ist gestoppt – die fünf neuen Bundesländer gewinnen seit 2012 wieder mehr Menschen als sie verlieren. Doch von der neuen Lust auf den Osten profitieren nach wie vor nur wenige Städte zwischen Rügen und dem Erzgebirge. Vor allem die Großstädte Leipzig und Dresden, Erfurt, Jena und Potsdam ziehen junge Leute aus dem Westen und aus dem Ausland an.

Wie das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung in seiner neuen Studie „Im Osten auf Wanderschaft“ zeigt, kommen sie als Studenten und Azubis – bleiben aber oft auch nach der Ausbildung im Osten, weil sich gerade in den Städten der Arbeitsmarkt verbessert hat.

Nur bei Berufswanderernverlieren neue Länder weiter

Die Studie zeigt aber auch die Kehrseite der Entwicklung: 85 Prozent der ostdeutschen Gemeinden schrumpfen weiter, die gute Gesamtbilanz wird ausschließlich von den Wachstumsinseln gespeist. Selbst die jungen Familien, die ins Grüne ziehen und den ländlichen Gemeinden Zulauf bringen, können den Trend nicht aufhalten. Der Osten blüht – aber vor allem in den großen Zentren.

„Ich schätze, dass sich der Trend verstetigt“, sagte Rainer Klingholz, Direktor des Berlin Instituts, bei der Vorstellung der Studie in Berlin. Den Grund dafür sieht die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), vor allem in der Städtebauförderung – sie habe die Städte lebenswert gemacht. Auch im Westen, so Klingholz, sei der Drang in die Städte stark. Das Land sei dort aber dichter besiedelt als im Osten – das erleichtere die Versorgung der schrumpfenden Regionen.

Insgesamt zogen seit dem Mauerfall rund 1,8 Millionen Menschen mehr aus dem Osten Deutschlands weg als neue Bürger zuwanderten – in der Nachwendezeit waren es überwiegend die Jüngeren zwischen 18 und 30 Jahren, die ihr Glück im Westen suchten. In den letzten Jahren hat sich die Wanderungsbewegung stark verändert: 2008 kehrten noch Menschen aus nahezu allen Bevölkerungsgruppen dem Osten den Rücken, die meisten gingen, um in den alten Bundesländern oder im Ausland zu studieren, zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen: Einzig bei den mehr als 64-Jährigen überwog schon damals der Zuzug in die neuen Bundesländer.

Fünf Jahre später dagegen verzeichnen die Forscher ein Bevölkerungsplus bei Jungen und Alten, Familien und Senioren. Nur bei den Berufswanderern zwischen 25 und 29 Jahren verlieren die neuen Länder weiterhin mehr Menschen als sie gewinnen.

Wie wichtig Zuwanderung für den Osten ist, zeigt ein Blick in die demografische Zukunft der Region: In den kommenden Jahren dürfte in Ostdeutschland die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten deutlich überwiegen. Durch den Geburteneinbruch und die Abwanderungswelle der Nachwendezeit wächst im Osten nur eine halbierte Generation ins Familiengründungsalter. „Wer die Einwohnerzahlen seiner Gemeinde stabilisieren will, muss Menschen aus anderen Regionen des Landes oder aus dem Ausland anlocken“, bilanziert die Studie.

Sechs Bevölkerungsgruppen haben die Forscher untersucht, um die Wanderungsbewegungen auch innerhalb der neuen Bundesländer besser zu verstehen: Die 18- bis 24-jährigen „Bildungswanderer“ zieht es in die Universitätsstädte Leipzig, Dresden und Jena, aber auch kleinere Hochschulstandorte können von ihnen profitieren. Die 25- bis 29-jährigen „Berufswanderer“ dagegen verlassen zwar nach wie vor häufig den Osten, doch zumindest in den größeren Städten, vor allem in Leipzig und Potsdam, beobachten die Forscher mittlerweile einen Aufwärtstrend. Die Gewinnerstädte überzeugten aber auch mit wirtschaftlichen Argumenten, sagt Stadtökonom Martin Rosenfeld vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle, der auf den Fachkräftemangel verweist. „Inzwischen sind viele Arbeitgeber deshalb bereit, Gehälter zu zahlen, die dem Westniveau entsprechen.“ Dazu kämen günstigere Lebenshaltungskosten, gute Chancen auf ein Eigenheim, ausreichend Kita-Plätze.

Die „Familienwanderer“ zwischen 30 und 49 Jahren ziehen eher innerhalb ihrer bisherigen Wohnregion um. Davon können selbst abgelegene Dörfer profitieren. Denn: Kleine Kommunen sind laut Studie bei den jungen Familien beliebter als größere Städte.

Die „Empty-Nest-Wanderer“ zwischen 50 und 64 Jahren, bei denen die Kinder aus dem Haus sind, bescherten den neuen Bundesländern 2013 immerhin ein Bevölkerungsplus von 3000 Menschen. Sie schätzen mittelgroße Städte mit gutem Versorgungsangebot. Bei den „Ruhestandswanderern“ im Alter von über 64 Jahren sind besonders Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beliebt. Die Senioren sind in den letzten Jahren mobiler geworden und suchen sich inzwischen häufiger nach dem Ende des Berufslebens einen neuen Wohnort. Eine Entscheidung, die oft ganz praktische Gründe hat: Vor allem Dorfbewohner zieht es im Alter in die nächst größeren Städte.

Abwanderungsregionen gibt es auch im Westen – etwa in Nordhessen

Als lokale Versorgungszentren bieten sie kurze Wege zu Ärzten, Geschäften oder kulturellen Einrichtungen: „Die Städte sollten sich dabei nicht scheuen, ihr altersfreundliches Umfeld nach außen zu vermarkten“, rät Studienautor Manuel Slupina. „Die Befürchtung, dies könnte potenzielle jüngere Zuwanderer vergraulen, ist fehl am Platz.“ Am Ende haben schließlich auch die Jungen etwas davon – neue Arbeitsplätze zum Beispiel.

Abwanderungsregionen gibt es auch im Westen – etwa in Teilen von Nordhessen, dem Hunsrück, Oberfranken und dem Harz. Im Osten ist die Lage aber dramatischer. „Wir haben Regionen, wo keiner mehr wandert – weil schon alle fort sind“, klagt die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD).