Kairo. In der arabischen Welt gehören sexuelle Übergriffe zum Alltag. Das liegt auch am traditionellen Frauenbild und der autoritären, patriarchalischen Mentalität

So manchem fiel nach den Ereignissen in Köln und Hamburg sofort der Tahrir-Platz in Kairo ein. Was dort am 11. Februar 2011, am Abend des Rücktritts von Ägyptens Diktator Hosni Mubarak, mit dem Missbrauch der CBS-Journalistin Lara Logan durch Dutzende junger Männer begann, wuchs sich in den folgenden Jahren zu regelmäßigen sexuellen Massenverbrechen gegen Frauen aus, an denen sich rasende Mobs von Hunderten junger Täter beteiligten. „Es ist eine Schande“, schimpfte damals aus dem fernen Washington Hillary Clinton, sprach von einem „tief beunruhigenden Muster“ und nannte solche Exzesse „eines so großen Volkes unwürdig“.

Übergriffe gegen Frauen sind in Ägypten, aber auch anderen Nationen des Nahen Osten weit verbreitet, nicht nur auf öffentlichen Plätzen, auch im Alltagsleben und in den Familien. Von einem „sozialen Krebs“ spricht eine Studie des Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte, nach der 83 Prozent der ägyptischen Frauen sexuelle Gewalt erleben, 46 Prozent sogar täglich – egal ob verschleiert oder unverschleiert. „Ich werde Tag für Tag hundert Mal angemacht. Ich habe alles versucht, dies zu stoppen, aber es hört nicht auf“, berichtete eine junge Frau, die als Verkäuferin arbeitet. „Ich trage weite Kleider, schminke mich nicht, tue alles, um meinen Körper zu verbergen.“ Einmal seien ihr zwei Männer gefolgt, „plötzlich packten sie mir vor aller Augen zwischen die Beine – ich schrie, rannte weg, keiner der Passanten griff ein.“

Die Ursachen für solche Exzesse sexueller Gewalt sind vielfältig. Im Vordergrund stehen soziale Gründe wie „Armut, Arbeitslosigkeit und Mangel an Lebenschancen“, erläutert Said Sadek, Professor für Soziologie an der Amerikanischen Universität in Kairo. Auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt betrachteten Männer die Frauen als unliebsame Konkurrenten und machten ihnen deshalb das Leben in der Öffentlichkeit schwer. Viele Täter seien junge Arbeitslose, die die hohen Kosten für eine Hochzeit nicht aufbringen könnten. „Sie sehen in diesen Übergriffen für sich die einzige Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben.“

Männer verfügen über Frauen – ganz selbstverständlich

Die tieferen Wurzeln aber liegen in dem traditionellen Frauenbild der arabischen Welt und ihrer autoritären, patriarchalischen Mentalität, für die eine systematische Verachtung von Frauen selbstverständlich ist. Männer weigern sich in der Schule, mit den Lehrerinnen ihrer Kinder zu sprechen. Wohnungen sind überfüllt, Väter oder Onkel daheim nahezu uneingeschränkte Herrscher, die sexuelle Übergriffe für ihr gutes Recht halten. Mädchen und junge Frauen wagen es nicht, ihre Peiniger aus der Verwandtschaft anzuzeigen. „In patriarchalischen Gesellschaften werden bei Vergewaltigungen nicht die Täter bestraft, sondern die Opfer“, erläutert Hoda Zakaria, Professorin für politische Soziologie an der Universität von Zagazig, die einen Dokumentarfilm zu dem Thema drehte.

In der Verfilmung des ägyptischen Bestsellerromans „Der Jakubijan-Bau“ von Alaa al-Aswani gibt es eine Szene, in der der reiche Kairoer Autohändler Hagg Azzam Ausschau nach einer jüngeren Zweitfrau hält. Er schickt seine Freunde als Späher aus, am besten gefällt dem frommen Herrn am Ende Souad Gaber, eine junge geschiedene Verkäuferin in dem Warenhaus Hannaux in Alexandria. Er lässt Erkundigungen über sie einziehen und meldet sich schlussendlich im Haus der Großfamilie an. Mit dem älteren Bruder der Auserwählten handelt er Ehevertrag und Brautpreis aus, während die junge Frau den beiden Herren Kaffee serviert. Am Ende wird auch sie noch irgendwie gefragt – aber das scheint eher höfliche Nebensache.

Dieser Umgang mit Frauen prägt das Ehe- und Familienverständnis von Millionen junger Araber. Männer verfügen ganz selbstverständlich über Frauen. Ehen sind viel stärker „clanzentriert“ als „partnerzentriert“, wie das im heutigen Europa selbstverständlich ist. Bei clanzentrierten Ehen entscheidet vor allem die Familiensippe über die Partnerwahl der Braut, über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war dies der Normalfall. Die Frau kann sich ihren Ehemann nicht einfach aussuchen und steht unter enger Kontrolle ihrer Verwandtschaft. Die partnerzentrierte Beziehung dagegen ist allein Angelegenheit der beiden Eheleute. Die Paarbeziehung ist höchstpersönlich und auf Augenhöhe. Die Partner wählen sich gegenseitig, wollen sich an ihrem Leben teilhaben lassen und den anderen möglichst mit einbeziehen. Historisch gesehen ist diese Form der Liebes- oder Konsensehe ein Spätprodukt. Sie ist erst rund 200 Jahre alt und eine Errungenschaft der europäischen Romantik. Und sie hat wesentlich beigetragen zu dem modernen, westlichen Leitbild der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Anders in der arabischen Welt, die diese Entwicklung in großen Teilen nicht mitvollzogen hat. Bereits 2002 identifizierte der erste „Arabische Entwicklungsbericht“ der Vereinten Nationen die Diskriminierung von Frauen als eine Kernursache dafür, dass sich die arabische Region zum Rest der Welt in einem chronischen Rückstand befindet. „Frauen leiden unter ungleichen Bürgerrechten und ungleichem Rechtsstatus. Die Nutzung der Fähigkeiten arabischer Frauen durch politische und wirtschaftliche Partizipation gehört zu den geringsten in der ganzen Welt“, hieß es in dem Text und weiter: „Frauen sind in den politischen Systemen stark benachteiligt, werden durch Gesetze, Gebräuche und Konventionen extrem marginalisiert.“

Und so fiel die Bilanz für die arabische Welt des „Gender Gap Index“, mit dem das Genfer Weltwirtschaftsforum die Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen bewertet, auch 2015 wieder absolut katastrophal aus. Erneut landete kein arabisches Land auf den ersten 100 Plätzen. Regionale Spitzenreiter sind die Ministaaten Vereinigte Arabische Emirate auf Platz 119, gefolgt von Qatar und Bahrain. Sämtliche anderen arabischen Nationen stehen auf den zwanzig Schlusslichtplätzen der 145 untersuchten Länder – Tunesien auf Rang 127, Saudi-Arabien auf 135, Ägypten auf 136 und Jemen ganz unten auf 145.

Im Kairoer Internetradio Banat wa Bas, was die Aktivistin Amani al-Tunsi speziell für junge Frauen gegründet hat, hält der Psychologe Sherif Abo Ellail regelmäßig Fragestunden. Der 38-Jährige hat in Ägypten und Großbritannien studiert. Mal geht es in seiner Sendung um Liebe unter Teenagern, mal geht es aber auch um Heirat und den Druck der Familie. Einerseits seien die Menschen im Nahen Osten sehr gefühlsbetont, sagt der Psychologe, der durch seine Ausbildung mit der westlichen und orientalischen Mentalität gleichermaßen vertraut ist. Andererseits gebe es in den arabischen Gesellschaften nach wie vor sehr strikte Familiennormen, auch wenn sich die soziale Kontrolle in den letzten Jahren etwas gelockert habe. So lassen sich nach seiner Erfahrung junge Frauen nicht mehr so einfach von der Familie vorschreiben, wen sie heiraten sollen. Sie wollen ihren Ehemann selber wählen und nehmen sich dafür Zeit. Sie sträuben sich gegen eine schnelle, von der Familie arrangierte Heirat. Sie sehen sich um und wollen am Ende eine gute Entscheidung treffen, berichtet er. Und so könne es passieren, dass die Eltern einen reichen Bräutigam aussuchten, den ihre Tochter jedoch nicht liebe. Die Tochter aber liebe jemanden, der wenig Geld habe. „Wir raten den jungen Frauen, heiratet nicht, wenn ihr den Mann nicht liebt“, sagt Amani al-Tunsi. „Eine Scheidung ist schlimmer, als alleine zu bleiben.“ Eine geschiedene Frau werde in Ägypten behandelt wie eine Prostituierte. „Und die Männer glauben, wenn sie eine geschiedene Frau heiraten, ist das wie ein Gnadenerweis.“ Wenn Familien, deren Töchter sich gegen eine arrangierte Ehe sträuben, in seine psychologische Praxis kommen, scheitert die Beratung fast immer, weiß Psychologe Sherif Abo Ellail. „Die Eltern wollen nicht einlenken, die Normen der Gesellschaft sind einfach zu stark. Das Einzige, was ich tun kann, ist auf Zeit zu spielen und die Familien zu überzeugen, mit der arrangierten Hochzeit noch zu warten.“