Paris. Zum Jahrestag des blutigen Anschlags auf das französische Satiremagazin kommt eine Sonderausgabe heraus

Ein Jahr nach dem Anschlag feiert das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ sein Überleben mit einer bissigen Sonderausgabe in Paris. Niemand geringeren als den Herrgott hat das „Charlie Hebdo“ zur Fahndung ausgeschrieben. Auf dem pechschwarzen Cover der an diesem Mittwoch erscheinenden Sonderausgabe befindet sich Gott als bärtiger Mann mit irrem Blick, blutbeflecktem Gewand und einer auf den Rücken geschnallten Kalaschnikow bereits auf der Flucht. Über dem Kopf des Gehetzten schwebt ein Dreieck mit Auge, daneben die anklagende Schlagzeile: „Ein Jahr danach: Der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß.“

Keine Frage, die Lust an der Provokation ist ungebrochen. Auch und gerade ein Jahr nach dem mörderischen Überfall auf die Zeitschrift, der viele Menschen noch immer sprachlos macht. Am Vormittag des 7. Januar 2015 hatten die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, zwei fanatische Islamisten, die Pariser Redaktionsräume des Satiremagazins gestürmt. Neben dem damaligen Chefredakteur Stéphane Charbonnier, genannt Charb, erschossen sie die Zeichner Jean Cabut (Cabu), Philippe Honoré, Bernard Verlhac (Tignous) und Georges Wolinski, die Psychoanalytikerin Elsa Cayat, den Ökonom Bernard Maris, den Korrekturleser Mustapha Ourrad. Außerdem starben ein Redaktionsgast, Charbonniers Personenschützer, ein Polizist sowie der Angestellte einer Wartungsfirma.

Der Anschlag war der Auftakt zu einer beispiellosen Welle des Terrors in Frankreich. Noch während die Kouachi-Brüder auf der Flucht waren, ermordete der Islamist Amédy Coulibaly auf offener Straße eine Polizistin und tötete bei einer Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt einen Angestellten sowie drei Kunden. Während der seither in Frankreich ununterbrochen herrschenden höchsten Alarmstufe konnten zwar ein halbes Dutzend weiterer Attentatsversuche vereitelt werden, nicht jedoch die verheerenden Anschläge vom 13. November, als islamistische Terroristen das Feuer auf mehrere Bars und Restaurants sowie im bekannten Konzertsaal Bataclan eröffneten. Den beinahe zeitgleich stattfindenden Attacken fielen 130 Menschen zum Opfer.

Dass sich die Überlebenden von „Charlie Hebdo“ jetzt dennoch erneut dem Vorwurf der Gotteslästerung aussetzen, ist eine kalkulierte Trotzredaktion. „Wir lassen zwei vermummte Vollidioten nicht unser Lebenswerk zerstören“, erklärt der Karikaturist und Leiter des Magazins Laurent Sourisseau (Riss) in seinem Leitartikel. Und ganz in der laizistisch-atheistischen Tradition des Blattes reitet er, der bei dem Überfall auf die Redaktion selbst schwer verletzt wurde, eine scharfe Attacke gegen alle „Fanatiker, die sich vom Koran verblöden lassen“ und gegen die „Weihrauchärsche der anderen Glaubensrichtungen“, die den Tod des Magazins herbeigesehnt hätten, weil es wagt, sich über die Religion lustig zu machen.

Von Riss stammt auch die bissige Titelkarikatur. Allerdings scheint dieser Tritt vor das Schienbein aller „Weihrauchärsche“ auch die Stimmung in der Redaktion widerzuspiegeln. Waren deren Mitglieder nach dem 7. Januar traumatisiert, so überwiegen seit dem 13. Dezember ganz offensichtlich Trauer, Entsetzen und Wut. Einen versöhnlichen Unterton, der noch die erste Ausgabe nach dem Angriff prägte (damals zeigte das Cover unter der Titelzeile „Alles ist vergeben“ den weinenden Propheten Mohammed mit einem „Ich bin Charlie“-Schild in den Händen), sucht man vergeblich.

Die Sonderausgabe mit 32 statt der sonst üblichen 16 Seiten kommt mit knapp einer Million Exemplaren an die Kioske, von denen 50.000 auch in Deutschland vertrieben werden. Sie enthält neben den aktuellen Arbeiten zahlreiche Zeichnungen der vor einem Jahr getöteten Karikaturisten. Vor allem aber soll die jüngste Ausgabe unterstreichen, dass „Charlie Hebdo“ sich treu bleibt, weiter provoziert, sich weiter über alles und jeden lustig macht. „Wir sind verletzt und dezimiert, aber wir sind noch da“, betont die Zeichnerin Corinne Rey, genannt Coco. Die Kouachi-Brüder hatten die junge Frau mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihnen die durch einen Code gesicherte Eingangstür zum Redaktionsgebäude zu öffnen.

Einige bekannte Mitglieder der Reaktion wie der Zeichner Luz, alias Renald Luzier, oder der Notarzt und Kolumnist Patrick Pelloux haben „Charlie Hebdo“ inzwischen verlassen. Coco nicht. Aus ihrer Feder stammt die umstrittene Titelzeichnung der Ausgabe nach dem 13. November, die einen jungen Mann zeigt, dem der Champagner, den er aus einer Flasche trinkt, gleich wieder aus den Einschusslöchern in seinem Körper läuft. „Sie haben die Waffen“, stand darunter, „aber das ist uns egal, wir haben den Champagner!“

Für „Charlie Hebdo“ bleibt der 7. Januar 2015 das Datum der Zäsur. Im negativen wie im positiven Sinne. War die Zeitschrift zuvor nicht mehr als ein vor der Pleite stehendes Käseblatt mit einer Auflage von weniger als 30.000 Exemplaren, hat sie heute 183.00 Abonnenten und eine normale Ausgabe wird 300.000 Mal gedruckt. Außerdem spülte die enorme Solidaritätswelle nach dem Anschlag über Spenden und über den Verkauf der am 14. Januar 2015 in der einmaligen Rekordauflage vom 8 Millionen Exemplaren gedruckten „Überlebensausgabe“ rund 30 Millionen Euro in die Kassen.

Für diesen Erfolg freilich zahlt die Redaktion über ihre ermordeten Kollegen Mitglieder hinaus einen hohen Preis. Ein Streit über den Umgang mit den Spendenmillionen vergiftete monatelang das Klima. Nun will das Magazin den Familien der Opfer insgesamt knapp vier Millionen Euro überweisen. Die Redaktion, die zunächst bei der Zeitung „Libération“ unterkam, ist inzwischen in ein neues Gebäude gezogen. Dieses steht ebenso unter schärfstem Schutz wie sämtliche Mitarbeiter, die ohne Leibwächter keinen Schritt mehr tun dürfen.

Das zweite Leben von „Charlie Hebdo“ ist also auch ein Leben mit der Angst. Dennoch „gibt es bei uns nach wie vor keine Selbstzensur“, beteuert Coco, „und keine Grenzen außer denen des Gesetzes“. Eine Aussage, die man der Zeichnerin nach nur einem Blick auf die neue Ausgabe in der Tat abnehmen darf.