Athen. Genesung oder Grexit? Bevölkerung sieht Lage sehr pessimistisch, politischer Rückhalt für Tsipras schwindet

Ein „Jahr der Wende“ sollte 2015 werden, versprach Alexis Tsipras seinen Landsleuten. Das wurde es auch, aber anders, als es sich der griechische Premier wohl bei seinem Amtsantritt vor elf Monaten vorgestellt hatte. Fast acht von zehn Befragten sehen ihr Land „auf dem falschen Weg“, 85 Prozent sind unzufrieden mit der Regierung, das offenbarte erst Mitte Dezember eine repräsentative Umfrage. Die meisten Griechen gehen pessimistisch ins neue Jahr: Zwei Drittel rechnen damit, dass sich ihre persönliche finanzielle Situation 2016 weiter verschlechtern wird.

Tausende Griechen haben in den letzten Wochen ihre Autos abgemeldet, weil sie die Kfz-Steuer nicht mehr bezahlen können. In den Steuerämtern des Landes bildeten sich am Dienstag lange Warteschlangen. In den vergangenen drei Wochen wurden fast 70.000 Autos abgemeldet. Wegen der harten Sparmaßnahmen ist das Einkommen der Griechen nach Schätzungen von Gewerkschaftsverbänden seit Ausbruch der schweren Finanzkrise vor sechs Jahren um mehr als 30 Prozent gefallen. Jeder Vierte ist ohne Arbeit.

Und der Sparkurs der Regierung geht weiter. Kurz vor Jahresende verabschiedete das Parlament ein weiteres Reformpaket und ebnete damit den Weg für die Auszahlung einer Kreditrate von einer Milliarde Euro. Für Premier Tspiras eine kurze Atempause. Schon im Januar muss er das nächste Reformpaket schnüren. Dazu gehören Steuererhöhungen und die Sanierung der Rentenfinanzen, die zu weiteren Kürzungen führen wird. Ob Tsipras dafür eine Mehrheit findet, ist fraglich. Deshalb könnte sich schon in den nächsten Wochen das Schicksal der Regierung entscheiden.

Was bringt das neue Jahr für die Griechen? Kriegt das Krisenland die Kurve? Oder kommt der Grexit wieder auf die Tagesordnung? „Tsipras hat durch die nachgiebige Haltung der Geldgeber und die Schwäche der Oppositionsparteien etwas Luft bekommen“, sagt Wolfango Piccoli, Chef des Wirtschaftsberatungsunternehmens Teneo, „aber ein schwerer Sturm braut sich zusammen.“

Stürmisch war auch das zu Ende gehende Jahr. Nach seinem Wahlsieg Ende Januar pokerte Tsipras monatelang mit den Geldgebern in der Reformrabatte, geriet aber immer mehr in die Defensive. Mit seiner Ankündigung einer Volksabstimmung über den Sparkurs löste Tsipras Ende Juni einen Ansturm auf die Banken aus – die Griechen versuchten, ihre Ersparnisse zu retten. Nur mit einer dreiwöchigen Schließung der Geldinstitute und der Einführung von Kapitalkontrollen konnte die Regierung den drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems abwenden. Mit dem Rücken zur Wand stimmte Tsipras Mitte Juli strikten Spar- und Reformauflagen zu und sicherte seinem Land damit neue Hilfskredite. Gleich darauf entledigte er sich des linksextremen Flügels seines Linksbündnisses Syriza, der seine Politik nicht mehr mittrug. Tsipras setzte Neuwahlen an, die er Ende September überraschend klar gewinnen konnte.

Doch gerettet ist der Dauer-Krisenstaat nicht. Die EU-Kommission prognostiziert Griechenland für 2016 erneut ein Minuswachstum von 1,3 Prozent. Es wäre das neunte Rezessionsjahr in Folge. „Griechenland geht es weit schlechter als vor einem Jahr“, konstatiert Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank und einer der besten Landeskenner. „Tsipras habe eine schmerzhafte Erfahrung gemacht: „Vertrauen kann mit Schallgeschwindigkeit zerstört, aber nur im Schneckentempo zurückgewonnen werden.“ Tsipras und sein früherer Finanzminister Varoufakis hätten bis Mitte 2015 „mit ihrer Konfrontationspolitik so viel Angst gesät und so viel Kapital aus dem Land getrieben, dass Griechenland sich von dem Aderlass nur langsam erholen wird“, meint der Chefökonom. Seit der Einigung auf das dritte Rettungspaket im Sommer habe sich sie Lage zwar stabilisiert, aber sie werde „leider kaum besser“.

So sehen es auch die meisten Griechen. Das Misstrauen in die Politik der Regierung ist Gift für die Konjunktur. Seit sich Ende 2014 der Wahlsieg von Tsipras abzeichnete, zogen Privat- und Firmenkunden aus Angst vor einem Grexit über 40 Milliarden Euro von den Konten ab. Die Liquiditätsklemme stranguliert die Wirtschaft, weil die Unternehmen nur schwer an Kredite kommen. Entspannen wird sich der Engpass erst, wenn wieder Einlagen zu den Banken zurückfließen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist Vertrauen in die weitere Entwicklung des Landes.

Mehrheit für den Ministerpräsidenten im Parlament bröckelt

Damit schließt sich der Kreis zur Politik. Die Chance, seine Regierung nach dem Wahlsieg Ende September auf eine breitere Basis zu stellen, verschenkte Ministerpräsident Tsipras. Die Folge: Wenige Wochen nach der Wiederwahl bröckelt seine Mehrheit. Die Koalition mit den rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen verfügt jetzt nur noch über 153 der 300 Sitze – kein üppiges Polster, wenn man an die Abstimmungen über die Renten- und Steuerreform denkt. Daran könnte Tsipras’ Regierung zerbrechen. Dann müsste er entweder eine Koalition mit kleineren Mitte-links-Parteien bilden oder Neuwahlen ausrufen. Auch Berenberg-Ökonom Schmieding schließt einen „politischen Unfall“ nicht aus. Die Grexit-Gefahr habe zwar seit Tsipras’ Kehrtwende im Sommer abgenommen, „aber gebannt ist sie nicht“.