Hamburg. In Afghanistan stehen die Islamisten vor der Eroberung der Provinz Helmand. Regierungstruppen halten ihnen nicht stand

Binnen weniger Minuten setzten amerikanische und britische Hubschrauber Hunderte schwerbewaffneter Spezialkräfte im afghanischen Sangin-Tal ab. Sie stürmten vier Drogenlabore der Taliban, töteten fast zwei Dutzend Milizionäre im Kampf und stellten Heroin im Wert von 70 Millionen Euro sicher. Die Provinz Helmand sei ein weiteres Stück sicherer geworden, sagte der britische Verteidigungsminister John Hutton sichtlich stolz in London. Das war im Februar 2009. Seitdem hat sich die Lage am Hindukusch dramatisch verändert. Von Erfolgen kann nur noch aufseiten der Taliban die Rede sein.

In einer Warnung, die Helmands Vizegouverneur Mohammed Dschan Rasuljar per Facebook an Afghanistans Präsident Ashraf Ghani schickte – weil es ihm nicht gelang, ihn auf offiziellen Kanälen zu erreichen –, heißt es, die Schlüsselprovinz stehe kurz vor dem Fall. „Ich kann nicht länger schweigen“, schrieb Rasuljar und bat um Verstärkung der ausgelaugten und demoralisierten Regierungstruppen. 350.000 Soldaten schaffen es nicht, dauerhaft den geschätzt 35.000 Taliban-Kämpfern im Land Paroli zu bieten.

Die chronisch überforderte afghanische Armee ist seit Monaten auf dem Rückzug. Die radikalislamischen Taliban haben seit dem vergangenen Sonntag das Polizeihauptquartier, das Büro des Bezirksgouverneurs und das Gebäude des Geheimdienstes im Bezirk Sangin erobert. Insgesamt zwölf der 14 Bezirke Helmands sind bereits in der Hand der Taliban oder hart umkämpft. Allein in den vergangenen zwei Tagen seien mehr als 90 afghanische Sicherheitskräfte getötet worden, sagt der Vizegouverneur. Im ganzen Jahr 2015 waren es bisher mehr als 2000 getötete Soldaten und Polizisten.

Viele Straßen der Stadt Sangin sind nach Berichten von Einwohnern vermint; die Menschen dort bettelten um Nahrung. Sangin ist aus zwei Gründen von strategischer Bedeutung im Kampf um Helmand. Zum einen verläuft durch die 15.000-Einwohner-Stadt die wichtigste Versorgungsstraße, die Kabul mit Helmands Hauptstadt Laschkar Gah verbindet.

Zum anderen ist Sangin ein Zen­trum der Opiumproduktion in Afghanistan. Mehr als die Hälfte der auf rund 200.000 Hektar geschätzten Schlafmohn-Anbaufläche Afghanistans befindet sich in der Provinz Helmand. Sie ist seit 2007 um das 50-Fache gewachsen. Der frühere, im Jahr 2013 verstorbene Taliban-Anführer Mohammed Mullah Omar hatte den Mohnanbau noch als unislamisch verboten – die Taliban unter Omars Nachfolger Akhtar Mohammed Mansur, der vor wenigen Tagen seinen schweren, im Kampf erlittenen Verletzungen erlag, haben diese Anordnung widerrufen. Eine komplette Eroberung Helmands würde ihnen über den Drogenhandel und die Erhebung von Steuern riesige Summen in die Kassen spülen.

Und die Taliban benötigen dringend Geld, unter anderem, um neue Kämpfer rekrutieren und Waffen erwerben zu können. Denn die Miliz befindet sich in Afghanistan nicht nur im Kampf mit den Regierungstruppen Kabuls, sondern inzwischen auch in einem mörderischen Verdrängungswettbewerb mit Daesch, dem „Islamischen Staat“.

Die Terrormiliz Daesch verliert in Syrien und im Irak allmählich an Boden, macht dies aber mit Erfolgen in Libyen, im Jemen und eben in Afghanistan wett. Seit Anfang 2015 ist Daesch in Helmand aktiv, hat die Taliban aber auch in der Provinz Nangarhar an der Grenze zu Pakistan in Kämpfe verwickelt. Es geht um Macht; beide Milizen gehören dem sunnitischen Zweig des Islam an. Den Taliban ist es auch deshalb möglich geworden, in Helmand Bezirk um Bezirk zu erobern, weil die Bevölkerung den Dauerkrieg und die ständige Drangsalierung durch die Regierungstruppen satt hat. Bei schlecht koordinierten Angriffen des Militärs sind in Sangin viele Wohnhäuser und Bauernhöfe zerstört worden.

Für die Briten, die in Afghanistan noch mit rund 450 Soldaten vor Ort sind, hat die Provinz Helmand große symbolische Bedeutung. Denn im blutigen Ringen um Sangin waren zwischen dem Beginn des Nato-Kampfeinsatzes 2001 und seinem Ende 2014 mehr als 100 britische Soldaten gefallen – fast ein Drittel aller britischen Toten am Hindukusch. London hat jetzt rund 30 zusätzliche Soldaten der Elitetruppe „Special Air Service“ (SAS) nach Sangin geschickt, um gemeinsam mit 60 amerikanischen Spezialkräften und den Resten der afghanischen Armee die Taliban zurückzutreiben.

12.000 Soldaten der Atlantischen Allianz sind nach der Beendigung des Kampfeinsatzes im vergangenen Jahr noch in Afghanistan – in der Unterstützungsmission „Resolute Support“ (Entschiedene Unterstützung). Deutschland will angesichts der dramatischen Entwicklung sein 2014 stark zurückgefahrenes Engagement 2016 sogar wieder leicht auf 980 Soldaten erhöhen.

Oberst Richard Kemp, ein früherer britischer Kommandeur in Afghanistan, sagte im Sender BBC Radio 5: „Tatsache ist, dass wir viel zu viele Truppen viel zu früh abgezogen haben – noch bevor die afghanische Armee in der Lage war, allein die Kontrolle auszuüben.“ Es sei nun höchste Zeit, bedeutende Bodenverbände an den Hindukusch zurückzuverlegen, um das zerrissene Land zu stabilisieren.