Madrid.

Den Sieg bei den Parlamentswahlen in Spanien hat er gerade eben noch geschafft – doch es wird wohl ein bitterer sein: Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy und seine Konservativen bleiben nach der Prognose des öffentlichen Fernsehens TVE vom Sonntagabend zwar stärkste Partei. Sie müssen aber erhebliche Verluste hinnehmen, so dass sie keine absolute Mehrheit mehr haben.

Heimlicher Gewinner dieser Wahl ist offenbar die linksalternative Podemos (Wir können), die überraschend zweitstärkste Partei wurde.

Die oppositionellen Sozialisten erlebten demnach ein historisches Debakel und landeten hinter Podemos auf dem dritten Platz. Die neue liberale Plattform Ciudadanos (Bürger), die sich ebenfalls schon weit vorne gesehen hatte, enttäuschte die Erwartungen und kam auf Platz vier.

Der TVE-Prognose zufolge stürzte Rajoys konservative Volkspartei (PP) von 45 Prozent im Jahr 2011 auf 28,4 Prozent. Podemos, die erstmals bei einer nationalen Wahl antrat, wurde bei 20,5 Prozent gesehen. Die Sozialisten (PSOE) mit ihrem Spitzenmann Pedro Sánchez fielen auf 22,4 Prozent (2011: 29 Prozent). Ciudadanos kam nur auf 13,5 Prozent. Zudem haben noch mehrere kleine Links- und Regionalparteien Mandate errungen.

Ob der 60-jährige Rajoy weiterregieren kann, ist unklar, da er künftig einen politischen Partner brauchen wird, den er bisher nicht hat. Ein Machtwechsel in Spanien ist also nicht ausgeschlossen. Zumal sich eine neue Mehrheit mit Sozialisten, Podemos und kleineren Linksparteien ergeben könnte. Eine große Koalition wird von Konservativen wie Sozialisten abgelehnt. Die liberal-bürgerliche Partei Ciudadanos schloss derweil aus, Konservative, Sozialisten oder Podemos bei einer Regierungsbildung zu unterstützen.

Nach der konstituierenden Sitzung des neuen Congreso de los Diputados am 13. Januar haben die Abgeordneten 60 Tage Zeit, um den Regierungschef zu bestimmen. Andernfalls drohen Neuwahlen.

Eine demokratische Lektion für das politische Establishment

Die Wahl stand im Zeichen der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die Spanien in den vergangenen Jahren durchmachte. Armut und Arbeitslosigkeit trieben in bisher nicht gekannte Höhe. Auch schwere Korruptionsskandale in den Reihen der Konservativen wie der Sozialisten schädigten die Glaubwürdigkeit der beiden Traditionsparteien.

Der große Unmut in der Bevölkerung führte zur Geburt der Protestparteien. Die linksalternative Partei Podemos entstand vor zwei Jahren aus den massiven Straßenprotesten empörter Bürger gegen den harten Sparkurs der Regierung und gegen immer neue Korruptionsfälle in der Politik.

Podemos-Chef Pablo Iglesias verspricht ärmeren Familien mehr Hilfen, will Wohlhabende und Unternehmensgewinne stärker besteuern und mit der EU eine Lockerung der Sparpolitik aushandeln. Podemos könnte sich vorstellen, mit den Sozialisten eine Koalition zu formen – eine derartige Zusammenarbeit funktioniert bereits in mehreren Städten und Regionen.

Die liberale Bürgerplattform Ciudadanos stammt aus der abdriftenden Region Katalonien und kämpft dort seit zehn Jahren gegen die Unabhängigkeit und für die Einheit Spaniens. Vor einem Jahr wagte Parteichef Albert Rivera den Sprung auf die nationale Bühne und gewann mit seiner Forderung nach einer „sauberen Politik“ ohne Korruption und Privilegien schnell Popularität. Rivera vertritt eine wirtschaftsliberale Politik, will die aufgeblähte Verwaltung straffen, Steuern senken und ebenfalls die bisherige harte Sparpolitik lockern. Bei seiner Stimmabgabe in der Hauptstadt Madrid sagte Rivera, dass Spanien mit dem Aufstieg der jungen Parteien vor einer „neuen Ära“ stehe. „Wir steuern auf eine zweite Transition zu“, sagte er.

Als erste Transition, also dem Wechsel der Organisationsform eines politischen Systems, werden in Spanien die Jahre des Übergangs von der 1975 erloschenen Diktatur zur Demokratie bezeichnet. Unabhängig vom Wahlausgang „werden wir alle zusammen das Land ändern“, sagte Rivera.

Ähnlich euphorisch äußerte sich der Podemos-Vorsitzende Iglesias, der in seinem Wahllokal im Madrider Arbeiterviertel Vallecas mit den Rufen „Pablo, Regierungschef“ begrüßt wurde. Er lobte, dass die Bürger mit dieser Wahl dem politischen Establishment „eine demokratische Lektion“ erteilt haben. „Es ist wunderbar, dies erleben zu dürfen.“

Es wurde erwartet, dass die sogenannten partidos emergentes, die aufstrebenden Parteien, vor allem von einem großen Teil der 1,6 Millionen jungen Erstwähler unter den 36 Millionen Stimmberechtigten unterstützt werden. „Ich wähle Podemos, auch wenn mein Vater sagt, dass ich so für das Chaos mitverantwortlich sein werde. So geht es nicht weiter“, sagt etwa die 19-jährige Kunststudentin Ana.

Aber nicht nur Jung, auch Alt erfindet Spanien neu. Hinter den hellgrauen Vorhängen der Wahlkabinen sah man am Sonntag sehr viele Gehstöcke und sehr viele Rollstühle. „Mehr als früher“, meinen Beobachter. „Ich habe oft PP gewählt, aber man lernt ja nie aus“, sagt etwa die 85-jährige María Pilar, „ich will die Korrupten aus dem Moncloa-(Regierungs-)Palast weg haben und wähle daher Podemos – und ich bin nicht die einzige meiner Generation“.