Brüssel.

Als die Teilnehmer des EU-Gipfels ihre Beratungen über das Problemmitglied Großbritannien und seine drohende Abwanderung beendeten, lagen die Urteile der Partner auf einer Linie: Die Briten sollen, wenn es irgend geht, im Klub gehalten werden. Alle sind bereit, dem bedrängten Premier David Cameron Brücken zu bauen, auf dass er seinen Landsleuten den Verbleib in der Union schmackhaft machen könne. Aber es gibt Grenzen – die fundamentalen Errungenschaften des EU-Verbundes können nicht geopfert werden, nur um die skeptischen Bewohner der Inseln bei Laune zu halten.

Fast eine Dreiviertelstunde hatte Cameron beim Abendessen den Kollegen erläutert, warum sich so viele seiner Landsleute in der bestehenden EU nicht mehr richtig aufgehoben fühlten und dass deswegen durchgreifende Reformen nötig seien. Die Botschaft sei angekommen, sagte der konservative Premier anschließend. „Da war eine Menge guten Willens im Raum. Es gibt Bewegung. Jeder sagt, die EU ist stärker, wenn Großbritannien drin ist!“

„Wir wollen Großbritannien als Mitglied der Europäischen Union erhalten“, sagt auch Angela Merkel. Das sehen die anderen ähnlich, auch wenn nicht alle – Frankreich zum Beispiel – den Prioritäten Wettbewerb, Freihandel, Binnenmarkt so verbunden sind wie die Briten. Den Unmut über Camerons Vorgehensweise haben die Staats- und Regierungschefs erst einmal heruntergeschluckt beziehungsweise dem Parlament überlassen, wo viele Abgeordnete sich über die „Erpressung“ oder „Rosinenpickerei“ des britischen Premiers ereifern. „David Cameron muss sich bewegen“, verlangt Parlamentspräsident Martin Schulz. „Wir haben das Referendum nicht erfunden, sondern Cameron.“ Doch der Gipfel hält sich mit solchen Empfindungen nicht mehr auf. Bis zum nächsten Treffen im Februar soll ein Deal her.

Wie der aussehen könnte, liegt indes weiter im Dunkeln. Der Widerspruch zwischen den Londoner Wünschen und den Prinzipien der Union ist nach dem Gipfel so massiv wie zuvor. Vier Reformforderungen („Körbe“) hat Cameron erhoben, damit er für die Volksabstimmung, vermutlich im Sommer nächsten Jahres, den Verbleib in der EU empfehlen könne: Schutz der Interessen von Ländern ohne den Euro, Verzicht auf das verbindliche EU-Ziel einer „immer engeren Union“, mehr Wettbewerbsfähigkeit durch Bürokratieentlastung und vierjähriger Ausschluss von Sozialleistungen für Arbeitnehmer aus einem anderen EU-Staat.

Auf allen vier Gebieten müsse man Lösungen finden, sagte Cameron und unterstrich „Lösungen – nicht Kompromisse!“ Als heikelstes Problem gilt der Korb vier. Cameron verlangt „Flexibilität, damit die Staaten ihre Sozialsysteme anpassen können, um besser mit der Migration fertigzuwerden.“ Da steht die Tory-Regierung unter Druck. Sie hat es bislang nicht geschafft, die Zuwanderung wie versprochen auf Hunderttausend pro Jahr zu drosseln. Und Zuwanderer, vor allem aus Polen, haben dieselben Ansprüche auf staatliche Unterstützung wie die Einheimischen. Der EU-Vertrag garantiert Arbeitnehmerfreizügigkeit und verbietet Diskriminierung von EU-Ausländern. Änderungen ließen sich aber möglicherweise bewerkstelligen, ohne das umständliche Verfahren zur Vertragsanpassung in Gang zu setzen. Merkel erläuterte, wie das funktioniert: Man vereinbart die Änderung inhaltlich, Vertragsrecht wird sie aber erst, wenn ohnehin die nächste große Reform ansteht. Ist das „verbindlich und unumkehrbar“, wie Cameron fordert? Ja, sagt die Kanzlerin. Es sei wie damals im Dezember 2004, als die EU beschloss, mit der Türkei über den Beitritt zu verhandeln. „Ich hätte das anders entschieden, aber ich fühle mich heute daran gebunden.“ In der EU heißt die Methode „dänische Lösung“: Die Dänen hatten den Maastricht-Vertrag 1992 abgelehnt. Die daraufhin mit den Partnern ausgehandelten Ausnahmeregelungen wurden zunächst in Form eines völkerrechtlichen Abkommens niedergelegt und erst Jahre später in den Amsterdamer Vertrag der EU eingebaut. Damals freilich ging es um die Währungsunion und die Verteidigungspolitik, nicht um Grundrechte. Als deren Verteidiger traten in Brüssel vor allem die neuen Mitgliedstaaten auf. Zum Beispiel Dalia Grybauskaite, die Ministerpräsidentin Litauens: „Diskriminierung gegen EU-Bürger kommt nicht infrage!“

Was allenfalls gehen könnte, ist eine Notbremsen-Regelung

Die vier Staaten der Visegrad-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) bekräftigten ebenfalls ihre Unnachgiebigkeit: „Freizügigkeit ist einer der Grundwerte der EU“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Man werde keine Lösung mit Abstrichen an diesem Prinzip mittragen. So steht Cameron besonders beim Diskriminierungsverbot vor einem Dilemma: Jede Schlechterstellung, die nur Ausländer trifft und Briten verschont, ist und bleibt eine Diskriminierung.

Was allenfalls gehen könnte, ist eine Notbremsen-Regelung für Fälle einer völligen Überlastung nationaler Sozialsysteme. Das ist eine der Optionen, an denen die Kommission nach Informationen aus diplomatischen Kreisen im Hinblick auf den angestrebten Deal bastelt: Dabei könnte bei drohendem Kollaps die Zuwanderung von EU-Bürgern vorübergehend gestoppt werden. Merkel deutete eine weitere Option an. Es gehe ja nicht um Freizügigkeit schlechthin, sondern um die entsprechenden Rechte von Arbeitnehmern, wozu es eine breite Rechtsprechung gebe. Will sagen: Hier wäre denkbar, dass der europäische Gesetzgeber die Linie klarer zieht, wer unter welchen Voraussetzungen welche Sozialleistungen beanspruchen kann.