Berlin .

Sigmar Gabriel hat seine ziemlich lange Rede fast beendet, als er den Delegierten plötzlich eine kleine Geschichte von seiner Tochter Marie erzählt. Die Dreijährige habe ihn vor seiner Abreise nach Berlin gefragt: „Wie lange musst du immer noch zu Angela Merkel fahren?“ Und er habe geantwortet: „Keine Angst, nur noch bis 2017.“ Da johlen die Delegierten auf dem SPD-Parteitag, und in den Beifall ruft Gabriel: „Wir wollen Deutschland wieder regieren und nicht nur mitregieren – natürlich vom Kanzleramt aus. Was denn sonst?“ Die SPD werde kämpfen, die Mehrheiten seien in Bewegung, so der Parteichef und greift einen Merkel-Satz auf: „Ich sage euch: Das schaffen wir! Wir gemeinsam!“

Das Wort Kanzlerkandidat hat Gabriel in den 108 Minuten seiner Rede gar nicht ausgesprochen, aber die Botschaft ist dennoch klar. Gabriel wird 2017 gegen Angela Merkel antreten, er will in Deutschland „endlich wieder mehr Politik wagen“.

Die Delegierten beklatschen ihren Vorsitzenden mit stehenden Ovationen. Eigentlich scheint alles klar an diesem Tag: Die SPD vereint sich hinter Gabriel. Um die 90 Prozent der Stimmen werde er nach der starken Rede bekommen, glauben führende Genossen. Doch drei Stunden später ist alles anders. Erst gibt es eine technische Panne bei der Wahl. Dann geht ein Raunen durch den Saal, Gabriel blickt erstarrt ins Weite, als sein Ergebnis verkündet wird. Nur 74,3 Prozent der Stimmen hat der Vorsitzende bei seiner dritten Wiederwahl bekommen, zehn Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren, 20 Punkte weniger als bei seinem Amtsantritt 2009. Eine böse Klatsche mit schwer absehbaren Folgen.

Es ist offenbar die Quittung der Parteilinken für Gabriels Versuch, die SPD auch wieder weiter in die Mitte zu rücken, sein Abrücken von früheren Steuererhöhungsplänen, sein entschiedenes Eintreten für die Vorratsdatenspeicherung. So sieht es auch Gabriel, der den Schock erstaunlich schnell überwindet und zu einer entschlossenen, zornigen Kurzrede ans Mikrofon tritt, während die Delegierten ihm noch höflich im Stehen Beifall zur Wiederwahl spenden: Wer mit Nein gestimmt habe, könne sich auch gleich wieder hinsetzen, ruft der Vorsitzende. Die Medien würden schreiben, Gabriel sei abgestraft, und das sei ja auch so. Und es sei etwas dran, wenn jetzt gefragt werde, ob er die Partei so in den Wahlkampf führen könne.

Aber Gabriel, der sich um die Kanzlerkandidatur nicht gedrängt hat, stellt klar, dass er nicht schwanken wird: „Jetzt ist klar, was ich will.“ 25 Prozent der Genossen wollten es nicht, aber nun sei es mit Dreiviertelmehrheit entschieden. „Und so machen wir es jetzt auch.“ Er habe die Partei nicht geschont, räumt Gabriel ein und verteidigt mit rauer Stimme zugleich seinen Kurs für 2017: Er wolle, dass die SPD für die arbeitende Mitte da sei, er wolle Politik für die Mehrheit machen. Leistung müsse sich lohnen.

Seine auch? Gabriel will ums Kanzleramt kämpfen, eine personelle Alternative hat die SPD offenbar nicht – aber Gabriel will es zu seinen Bedingungen, das hatte er schon in der Rede klar gemacht: Ein bisschen Selbstkritik übt er, demütig nennt er das Vorsitzendenamt „das stolzeste und ehrenvollste Amt“ der deutschen Politik. Aber gleich zu Beginn seiner teils staatsmännischen, teils kämpferischen Rede fordert er die Partei auf, in den Zeiten von Terror und Flüchtlingskrise „lieber etwas nachdenklicher zu sein als zu laut“. Parteitaktik dürfe in dieser Situation nicht das Handeln der SPD bestimmen.

So deutlich wie lange nicht geht Gabriel die Kanzlerin und ihre Union an. Die SPD sei der stabile Faktor, ohne sie wäre die Regierung durch den Streit in der CDU/CSU gelähmt. Gabriel wirft Merkel vor, gegen seinen Rat Frankreich eine Sparpolitik aufgezwungen zu haben, die den rechtsradikalen Front National stärke. Dass andere EU-Staaten wenig Verständnis für die deutsche Flüchtlingspolitik zeigten, ist Gabriel zufolge Merkel geschuldet. Er zitiert zustimmend aus einer letzten Begegnung mit Helmut Schmidt: Jetzt räche sich der deutsche Hochmut der letzten Jahre, die Politik der Bevormundung vieler anderer EU-Staaten habe das Vertrauenskapital aufgezehrt. Und mit Blick auf Merkel: Man könne sich nicht morgens feiern lassen für die Einreise von einer Million Flüchtlinge und dann im Koalitionsausschuss Vorschläge machen, „wie man sie schlechter behandeln könnte“. Das Tempo der Zuwanderung müsse verringert werden, aber eine Diskussion um Obergrenzen sei „dumm“. „Helfen, ordnen, steuern“ nennt Gabriel den dritten Weg.

Gabriel verteidigt seinen in der Partei umstrittenen Kurs, die SPD wirtschaftsfreundlicher auszurichten: Die SPD müsse sich um Wachstum und wirtschaftliche Dynamik kümmern, auch für mehr Investitionen sorgen – Wirtschaftswachstum bringe mehr als Steuererhöhungen. Ein heikles Thema: Gabriel plädiert zwar für eine höhere Besteuerung von Kapitalerträgen, mehr Zugeständnisse macht er nicht. Und er verteidigt die Bundeswehrmission in Syrien. Jede politische Lösung komme zu spät, wenn der IS dort einen Terrorstaat errichte.

Der Chef redet Klartext und legt sichmit der Juso-Chefin Uekermann an

Gabriel gibt den Klartext-Redner und legt sich mit Juso-Chefin Johanna Uekermann an. Sie hatte die Arbeit des Parteichefs vor Kurzem mit einer „Vier minus“ benotet. In der Aussprache nennt sie seine Rede zwar „stark“, entscheidender sei aber, danach zu handeln. Da geht Gabriel empört noch mal ans Pult: Er verteidigt seinen Einsatz etwa für die Vorratsdatenspeicherung und wirft Uekermann vor, „falsche Vorurteile über die SPD zu produzieren“. Gabriel sagt später: „Ich bin für Klarheit in der Debatte. Ihr sollt wissen, woran ihr bei mir seid.“ Mehr Delegierte als angenommen zogen daraus Konsequenzen. Am späten Abend dann muss Gabriel die letzte Niederlage des Tages hinnehmen: Der Antrag der SPD-Frauen, Doppelspitzen in den Führungsebenen der Partei durchzusetzen, scheitert. Gabriel hatte sich ursprünglich dafür ausgesprochen.