Berlin. Die Kanzlerin will die Union beim Parteitag auf ihre Linie zwingen: keine Obergrenzen. Sie prüft aber längst andere Optionen

Der Druck ist groß. Nachgeben kommt für Angela Merkel trotzdem nicht infrage. Für den anstehenden CDU-Parteitag toleriert sie nur einen Antrag, der sich wie eine Bestätigung ihrer Flüchtlingspolitik liest. Die Kanzlerin hat drei Prioritäten: Europa, Europa, Europa. Forderungen nach Obergrenzen, nach nationalen Alleingängen, um etwa die deutschen Grenzen dichtzumachen, blockte Merkel ab. Der Antrag, der seit einigen Stunden vorliegt, ist das Dementi eines Notfallplans der Regierung.

Dabei werden hinter den Kulissen durchaus Szenarien durchgespielt: Alternativen für den Fall, dass der Flüchtlingsstrom 2016 anhalten sollte. Zweifel, ob der kontrollfreie Schengen-Raum aufrechterhalten werden kann, hatte Merkel zuletzt in der Haushaltsdebatte selbst gestreut. Eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in Europa, mahnte sie im Bundestag, sei „nicht irgendeine Petitesse“. Was sind ihre Prioritäten? Ihre Optionen?

Verbissenes Ringen um das O-Wort hinter den Kulissen

Merkels Getreue wie Unionsfraktionschef Volker Kauder setzen alles daran, die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen aufzuhalten, sei es schon auf türkischer Seite, sei es erst in Griechenland. Unionspolitiker trommeln seit Tagen für den Vorschlag, die EU-Grenzschutzbehörde Frontex aufzuwerten. Sie soll zu einer schlagkräftigen Grenzpolizei werden. Ein entsprechender Vorschlag der EU-Kommission wird bald erwartet. „Europa muss bereit sein, angesichts der Flüchtlingsbewegung die Weichen völlig neu zu stellen“, sagte Kauder.

Per Plan hat zwei Haken. Sollte Frontex die Grenzsicherung übernehmen, müssten die Nationalstaaten bereit sein, ihre Souveränitätsrechte abzutreten, „zumindest teilweise“, weiß Kauder. Hinzu kommt, dass der Nato-Verbündete Türkei und der EU-Partner Griechenland nur mitziehen, wenn man sie nicht alleinlässt, sondern ihnen einen Teil der Flüchtlinge abnimmt. Jeder EU-Staat müsste sich zu Kontingenten verpflichten. Dagegen wehren sich die Osteuropäer, teilweise mit Klagen. Schon sie können Merkels Wunschplan zu Fall bringen.

Wenn diese Hürde überwunden ist, steht die Bundeskanzlerin vor der nächsten kniffligen Aufgabe. Dann muss sie definieren, für wie viele Flüchtlinge sie Zusagen machen soll. Für eine solche europäische Selbstverpflichtung müsste sie zuvor in Deutschland faktisch eine „Obergrenze“ definieren – bislang ein Unwort, wie das verbissene Ringen im Vorfeld des CDU-Parteitags zeigt. Wenn die Christdemokraten am Montag zu ihrem Kongress in Karlsruhe zusammenkommen, dann wird in dem Leitantrag der CDU-Führung das ominöse O-Wort fehlen. Generalsekretär Peter Tauber schließt es kategorisch aus. Die Junge Union (JU) will auf dem Parteitag in Karlsruhe trotzdem Obergrenzen beantragen.

Verklausuliert läuft die Debatte auch längst in der Regierung. Es gibt dafür Kriterien. Die Demografie gehört eher nicht dazu. Um den Bevölkerungsrückgang zu stoppen, bräuchte Deutschland Jahr für Jahr eine bis 1,2 Millionen Migranten – gesellschaftspolitisch völlig irreal, nicht durchsetzbar; und die Kanzlerin weiß das auch.

Im Innenministerium kursieren Studien britischer Wissenschaftler, die anhand der volkswirtschaftlichen Daten auf etwa die Hälfte kommen: 400.000 bis 500.000 Migranten könnte Deutschland verkraften, wenn man Einwohnerzahl, Arbeits- und Wohnungsmarkt und weitere Sozialdaten zugrunde legt. Es mag ein Zufall sein, aber es entspricht den Kapazitäten, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgebaut werden. Wenn der Personalaufwuchs Mitte 2016 zu Ende ist, wird das Amt mit über 7000 Mitarbeitern in der Lage sein, jährlich 500.000 Anträge abzuarbeiten.

An andere Lösungen denken, aber nie darüber öffentlich reden

Schon im September warb Innenminister Thomas de Maizière für eine Kontingentlösung, einem Parteifreund vertraute er die Größenordnung an, die ihm vorschwebt. Ein Einwand begegnet de Maizière seither in den eigenen Reihen. „Wir können nicht sagen, wir nehmen 400.000 auf – dem 400.001. verweigern wir aber ein Asylverfahren. Das geht nicht“, sagte Tauber dieser Zeitung. Für de Maizière – kein Problem. Weil: Es werden ohnehin nur zwei Prozent der Asylbewerber auch tatsächlich anerkannt. Die Kontingentlösung zielt nicht auf Asylbewerber, sondern auf Bürgerkriegsflüchtlinge und Geduldete ab. Den 400.001. müsste man nach de Maizières Logik an der EU-Außengrenze, spätestens an der deutschen Grenze abfangen.

Wer Kontingente will, muss eine Obergrenze definieren. Wer diese durchsetzen will, muss wiederum die Grenzen dichtmachen und kontrollieren, in letzter Konsequenz – zur Not – an der Grenze nach Österreich. Das wäre die faktische Aufgabe einer Union ohne Binnengrenzen. Dass der Fall denkbar ist, räumt die CDU auch in dem Antrag für den Parteitag ein. In dem Entwurf heißt es, nur wenn der Schutz der EU-Außengrenze gelinge, „wird das Funktionieren des Schengen-Raumes dauerhaft aufrechterhalten werden können“. Es ist eine gewundene Erklärung, ihre Botschaft erschließt sich am besten im Umkehrschluss: Scheitert die Sicherung der Außengrenze, dann scheitert auch das Schengen-System ohne Binnengrenzen. Und dann wären Kontrollen im Binnenraum wieder der Regelfall in Angela Merkels Europa. Es wäre der Notfall.