Berlin. Von Rhetorik bis Führungsstärke – ein Fakten-Check zum SPD-Parteitag

Zum Auftakt des SPD-Parteitags hielt sich Sigmar Gabriel noch zurück, ließ anderen den Vortritt. Sein großer Tag ist heute. Bei der dritten Wiederwahl zum Parteichef geht es für Gabriel um eine der wichtigsten Weichenstellungen seiner Karriere: Der Konvent muss ihm Rückenwind für seine geplante Kanzlerkandidatur 2017 geben. Bekommt er als Vorsitzender diesmal ein besseres Ergebnis als 2013, als er mit nur 83,6 Prozent im Amt bestätigt wurde? Mit einer kämpferischen Rede will Gabriel die Genossen überzeugen. Die offizielle Kandidatur soll erst Ende 2016 ausgerufen werden, damit nicht jetzt schon jeder Schritt als Wahlkampfmanöver ausgelegt wird – doch natürlich ist Gabriels Kandidatur das Thema der Delegierten. Die große Frage: Kann er Kanzler, hat Gabriel das Kanzlergen? Ein Faktencheck:


Führungsstärke:
Gabriel ist ein politisches Alphatier. Er hat die SPD nach der dramatischen Niederlage 2009 zusammengehalten, sie 2013 mit großer Nervenstärke und Risikobereitschaft bei der Mitgliederbefragung nach der Wahl in die große Koalition geführt. Sein Stil ähnelt dem von Gerhard Schröder: Politischer Instinkt vereint sich mit Hemdsärmeligkeit. Dabei fehlt Gabriel manchmal das diplomatische Geschick. Seine Partei hat er gelegentlich eher überrumpelt als überzeugt – etwa beim Streit um die Vorratsdatenspeicherung.

Fazit: Führungsstark mit Basta-Tendenz.


Erfahrung:
Gabriel ist seit 28 Jahren Politiker. Der 56-Jährige hat so viel Erfahrung wie kein anderer seiner Generation in der SPD. Der studierte Gymnasiallehrer zog 1990 in den niedersächsischen Landtag ein, zeigte schnell sein Talent, war Fraktionschef und drei Jahre Ministerpräsident. Seit 2005 sitzt Gabriel im Bundestag und hat Erfahrungen als Umweltminister und jetzt als Wirtschaftsminister gesammelt. Außerdem ist er als Vizekanzler der zweite Mann im Kabinett, leitet die Sitzungen in Abwesenheit der Kanzlerin. Seit sechs Jahren ist Gabriel Bundesvorsitzender der Sozialdemokraten – und ist damit der Parteichef mit der längsten Amtszeit seit Willy Brandt.

Fazit: Mehr Erfahrung geht kaum.

Internationaler Auftritt: Sigmar Gabriel pflegt ein weltweites Netzwerk, hat ein enges Verhältnis zum Beispiel zu Frankreichs Präsident François Hollande. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin sucht das Gespräch mit ihm, empfing ihn erst jüngst im Kreml. Früher als Umweltminister und jetzt als Wirtschaftsminister ist Gabriel häufig im Ausland unterwegs und ist gut vernetzt.

Fazit: Er vertritt Deutschland souverän auf internationalem Parkett.


Verlässlichkeit:
Gabriel lässt sich schnell begeistern von Themen und Ideen, entscheidet mitunter sehr schnell, was ihm manchmal den Vorwurf der Sprunghaftigkeit einbringt. In den großen politischen Fragen wie jetzt in der Flüchtlingskrise steuert Gabriel einen klaren Kurs. In der schwarz-roten Regierung hat sich Gabriel als verlässlicher und loyaler Partner der Kanzlerin erwiesen. Angela Merkel vertraut auf das Wort des Niedersachsen.

Fazit: Besser als sein Ruf.

Popularität: Gabriel ist in seiner Heimat Goslar tief verwurzelt, spricht die Sprache der Bürger. Dennoch ist die Popularität eher Gabriels Schwachstelle. Mit seiner Arbeit als Wirtschaftsminister ist zwar eine Mehrheit der Bürger zufrieden, doch als Kanzler wollen ihn derzeit nur 16 Prozent sehen. Die fehlende Popularität ist trotz guter Arbeit ein Problem für Gabriel. Da muss der Parteichef gewaltig aufholen, um Merkel gefährlich werden zu können. Als Kanzler müsste er weniger Leidenschaft, dafür mehr Sicherheit ausstrahlen.

Fazit: Nachholbedarf.


Rückhalt in der Partei:
Als Parteichef sitzt Gabriel fest im Sattel, trotz mancher interner Debatten. Die Zahl seiner treuen Verbündeten ist aber überschaubar. Als Kanzlerkandidat muss Gabriel einen Teil der Genossen noch überzeugen. Wunschkandidat ist eigentlich Frank-Walter Steinmeier, der will aber nicht.

Fazit: Nicht geliebt, aber alternativlos.


Redekunst:
Gabriel ist ein begnadeter Redner, der Wähler und Delegierte begeistern und Stimmungen drehen kann. Hinter seinem Redetalent steckt viel Erfahrung, aber auch politische Emotionalität: Seine scharfe Zunge ist beim politischen Gegner gefürchtet. Gelegentlich wird er in TV-Interviews – wie jüngst im ZDF-Interview mit Marietta Slomka – zu scharf. Das kommt in der Partei oder bei politischen Beobachtern gut an, kann aber manche Zuschauer irritieren.

Fazit: Gute und kämpferische Kanzlerreden wären sicher.


Machtwille:
Groß. Sonst hätte er als Vizekanzler und SPD-Chef nicht schon fast alles erreicht. Er weiß: Wenn er jetzt zögert, wird ihm das als Schwäche ausgelegt. Früher als notwendig hat Sigmar Gabriel seine Kanzlerkandidatur für 2017 angemeldet: „Natürlich will ich Bundeskanzler werden, wenn die SPD mich aufstellen will. Das ist doch keine Frage“, hat er im November erklärt. Fazit: Gabriel will die ganze Macht und muss heute die Partei überzeugen, dass er sie verdient.

Ergebnis: Gabriel hat das tatsächlich Kanzlergen. Aber zur Bundestagswahl 2017 sind die Ausgangsbedingungen schwierig. Nach Umfragen könnte die SPD rechnerisch nur den Bundeskanzler stellen, wenn sie mit Grünen und Linken koaliert. Eine rot-rot-grüne Koalition lehnt Gabriel bisher ab. Aber er hat durchaus eine große Chance: Die Popularität der Kanzlerin sinkt durch die Flüchtlingskrise. Erstmals scheint Angela Merkel nicht mehr unangreifbar.