Asrak. Der Bundespräsident besucht das Flüchtlingslager Asrak in Jordanien. Er fordert mehr Hilfe von der internationalen Gemeinschaft

Ein eisiger Wind weht über die Hügelketten an der Fernstraße von Amman nach Bagdad, in der schäbigen Blechbaracke ist es bitterkalt. Die 28 syrischen Flüchtlingsmädchen der Klasse 7b sitzen in Winterjacken und Schals vor ihren Aufgabenheften für den Mathematikunterricht, als der Bundespräsident mit einem freundlichen Hallo den kleinen Raum betritt. Joachim Gauck wundert sich kurz über die kalten Hände, die die Mädchen ihm zur Begrüßung entgegenstrecken, aber dann ist er schnell sehr angetan von der Schulklasse hier im Flüchtlingslager Asrak im öden Osten Jordaniens. Der Blick aus den kleinen Fenstern ist trostlos, das Dach aus Zeltstoff verdreckt – aber die zwölfjährigen Kinder sind voll bei der Sache, fast alle melden sich, um vorn an der Tafel Rechenaufgaben zu lösen.

Sie sind mit ihren Familien aus der IS-Hochburg Rakka geflohen, aus Homs oder aus Daraa im nahen Süden Syriens, erzählen sie dem Präsidenten. Gaucks Lebensgefährtin Daniela Schadt setzt sich auf die Schulbank zu den Mädchen, am Ende flüstert sie der verschleierten jordanischen Lehrerin zu: „Die Kinder lieben Sie und sind so dankbar für den Unterricht.“ Doch so beeindruckt die Besucher sind, nach dem Rundgang durch das Lager mit rund 28.000 Flüchtlingen ist Gaucks Urteil zwiespältig. Er lobt zwar die umfassende Hilfe und das Bildungsangebot. Aber er sagt auch: „Das hier ist eine sehr spezielle Situation. Hier gibt es mehr Steine und Sand als Menschen.“

Asrak liegt mitten in der jordanischen Wüste, die syrische Grenze ist nur 90 Kilometer entfernt. Kein Dorf ist in der Nähe, nicht einmal Strom gibt es hier, so fällt das Fernsehen als Verbindung zur Zivilisation aus. „Viele wollen weg“, sagt Stephen Allen, Koordinator des UN-Kinderhilfswerks. „Sie wollen zurück nach Syrien, sobald die Lage stabiler ist – oder nach Europa, das ist hier auch ein ständiges Thema.“

Und so wird der Besuch des Flüchtlingslagers zur mehrfachen Gratwanderung für den Präsidenten: Er ist zum Ende seiner Nahostreise in das jordanische Vorzeigelager gefahren, das vom UN-Flüchtlingshilfswerk betrieben wird. Gauck will seinen Gastgebern Respekt zollen für die Leistung, die Jordanien mit der Aufnahme der Flüchtlinge erbringt – fast 700.000 Menschen sind aus Syrien ins Königreich geflohen, das entspricht einem Zehntel der jordanischen Bevölkerung. „Ich weiß nicht, was in Deutschland los wäre, wenn wir einen solchen Anteil an Flüchtlingen hätten“, sagt Gauck. Er vermeidet es aber, seinen Bundesbürgern die bisherige jordanische Großzügigkeit als Vorbild darzustellen. Die Bedingungen sind zu unterschiedlich, und Gauck will in der Flüchtlingsdebatte auch nicht mit moralischen Appellen Skeptiker zusätzlich vergraulen. In der deutschen Debatte hat er für sich die Rolle des verständnisvollen Realisten gewählt, der neben Ermutigung auch die Sorgen der Bürger artikuliert.

Mitten in der Wüste richtet der Präsident aber einen eindringlichen Appell an die internationale Gemeinschaft, ihre Unterstützung für die Flüchtlinge in Jordanien und anderen Nachbarländern Syriens wieder aufzustocken: Dass die Nahrungsmittelhilfe reduziert worden sei, „das geht so nicht“. Jeder Euro, der hier investiert werde, sei Vorbeugung gegen Terrorismus, betont Gauck. Am Vortag hatte ihm der jordanische Islamforscher Mohammad Abu Rumman besorgt erklärt, wie gefährlich die Perspektivlosigkeit in den Lagern sei: „Die Kinder in den Flüchtlingscamps durchleben alle Kapitel der Tragödie – da wächst die nächste Generation des ‚Islamischen Staates‘ heran.“

Dabei hat sich Jordanien mit dem Lager Asrak alle Mühe gegeben. Schnurgerade Reihen weißer Blechbaracken ziehen sich bis zum Horizont, es gibt Schulen, die bis zur Hochschulreife führen, Sportplätze, ein Krankenhaus.

Jordanien hatte seit Beginn des Konflikts in Syrien eine großzügige Aufnahmepolitik betrieben. Aber inzwischen ist die Grenze zu Syrien praktisch geschlossen – ein Problem gerade jetzt, da der Flüchtlingsdruck wieder steigt. Prekär ist die Lage vor allem für die Flüchtlinge, die außerhalb von Camps in den Städten wohnen – und das sind immerhin rund 80 Prozent.

Die Hilfsprogramme der Vereinten Nationen sind chronisch unterfinanziert. Experten berichten, dass Familien ihre Kinder aus den Schulen nehmen, damit sie etwas verdienen, oder ihre minderjährigen Töchter verheiraten, um mit dem Brautgeld das Überleben zu sichern. Offiziell ist ihnen die Aufnahme von Arbeit verboten, doch arbeiten rund 150.000 syrische Arbeiter illegal und machen den Einheimischen Konkurrenz. Der Menschenrechtsaktivist Atallah Alsarhan warnt: „Die Preise und Mieten steigen, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist gefährlich.“ Die Ärmsten beginnen trotz der Risiken, nach Syrien zurückzukehren. Wer es finanzieren kann, macht sich auf den Weg nach Europa. Vor allem nach Deutschland: Wegen der großen syrischen Gemeinde hierzulande, wegen der Bilder von der Willkommenskultur, auch wegen Gerüchten über Begrüßungsgelder.

Der jordanische König Abdullah II. bin al-Hussein macht im Gespräch mit Gauck klar, dass er sich auch deutsche Unterstützung bei der Versorgung der Flüchtlinge wünscht. Jordanien ist für den Westen schließlich ein Hort der Stabilität in einer unruhigen Region, wie Gauck lobt. „Wir sind da nicht die einzigen Helfer, aber gehören doch zum Helfer- und Freundeskreis“, sagt Gauck. Im Gespräch ist eine gezielte Wirtschaftsförderung, die sowohl Einheimischen als auch Flüchtlingen zugutekäme. Für Gauck wäre das auch ein wichtiger Beitrag zur Integration. Das Lager Asrak „in the middle of nowhere“ könne diese Integration nicht leisten, kritisiert er am Ende seines Besuchs offen. Auf Dauer seien solche Camps deshalb ein Irrweg. Und auch mit Blick auf Deutschland fügt der Präsident hinzu: „Wir müssen Möglichkeiten schaffen, die Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren.“