Diyarbakir.

Als Oberhaupt einer Großfamilie hat Mohamed Scheich Abdal bisher nicht so leicht die Fassung verloren. 27 Kinder hat er, mit zwei Frauen. Zu Hause, in einem Dorf nahe der syrischen Stadt Kobane, kamen noch 700 Schafe dazu. Scheich Abdal, ein hochgewachsener Mann mit grauen, buschigen Augenbrauen hatte sein kleines Reich. Jetzt sitzt er im Schneidersitz in einem nur mit Matratzen möblierten Zimmer in der türkischen Stadt Diyarbakir. Auf dem Boden steht ein Tablett mit süßem Tee.

Scheich Mohamed erzählt, wie er vor gut einem Jahr vor den Terrormilizen des „Islamischen Staats“ (IS) flüchtete. Zu Fuß kamen er und seine Familie über die Grenze in die Türkei. Dann wird seine Stimme lauter, die Bewegungen der Hände werden heftiger. Ein Mitglied seiner Familie hat der IS getötet, ein anderes entführt. „Sie behaupten, sie seien Muslime, aber sie sind es nicht“, sagt er. „Die Araber instrumentalisieren den Islam für ihre Politik!“ Dann erhebt er sich plötzlich, er verdeckt seine Augen mit der Hand und verlässt das Zimmer. Draußen donnern die Kampfjets der türkischen Armee vorbei.

Mohamed Scheich Abdal, 67 Jahre alt, hat auf der Flucht vor Krieg und Terror die Fassung verloren. „Er weint“, flüstert der Übersetzer und weiß nicht, wohin er schauen soll.

Flüchtlinge sind in der Türkei nur als „Gäste“ anerkannt

In der Millionenstadt Diyarbakir kennen sie solche Schicksale, und nicht nur dort. Das ganze Gebiet an der 900 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Syrien kann Geschichten von Flucht und Gewalt, von verlorener Würde und Hoffnung auf ein neues Leben erzählen. Mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei binnen vier Jahren aufgenommen. Viele sind weitergezogen, aber viele sind geblieben. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Geht es nach der Europäischen Union, sollen noch mehr Flüchtlinge in der Türkei bleiben und den Weg nach Europa gar nicht erst antreten. An diesem Sonntag verhandeln beide Seiten darüber in Brüssel.

Doch obwohl die Flüchtlinge in der Türkei in Sicherheit vor den Bomben des syrischen Machthabers Assad sind und vor den Terroristen des IS: Die Türkei ist keine neue Heimat, sie will es auch nicht sein. Die Flüchtlinge sind „Gäste“, das ist die offizielle Sprachregelung. Sie sollen nicht bleiben, obwohl die meisten von ihnen in normalen Wohnungen leben. Viele bekommen Hilfe von türkischen Nachbarn, aber die Türkei will sie bisher nicht integrieren. Das Land hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur zum Teil unterschrieben, was heißt, dass Flüchtlinge nicht bleiben können. Es ist ein Grund, warum viele nach Europa ziehen.

„Gast zu sein bedeutet, dass man – zumindest theoretisch – jederzeit aus dem Land geworfen werden kann“, sagt Sema Karaosmanoglu, Mitgründerin der Hilfsorganisation Support to Life, die sich im Südosten der Türkei um Flüchtlinge aus Syrien kümmert und dabei mit der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe kooperiert. Aber einen Weg zurück nach Syrien gibt es oft nicht. Viele Häuser sind zerstört, die Felder nicht mehr bestellbar. „Es geht keiner zurück“, sagt Karaosmanoglu.

Hadi Salih ist einer von denen, die weiter nach Europa wollen. Wohin genau, weiß er nicht. Hauptsache Europa. „Dort herrscht Zivilisation und wir können unser Leben leben“, sagt er und dreht sein Smartphone in der Hand. 1000 Dollar koste die Reise, hat er sich sagen lassen – Geld, das er nicht hat.

Was die Flüchtlinge trennt, sind jahrhundertealte Vorurteile, Misstrauen und oft auch Hass zwischen Volksgruppen und Religionen. Eine explosive Mischung, die niemand entschärft, wie die Helfer von STL berichten. So haben Flüchtlinge in der Türkei Anrecht auf medizinische Versorgung und sie sollen ihre Kinder in die Schule schicken können. Faktisch aber geht von den geschätzt 800.000 syrischen Flüchtlingskindern nur jedes Dritte in die Schule. Türkischen Sprachunterricht gibt es kaum.

Der Zustrom der Menschen aus Syrien ist zurzeit sehr gering

Türkische Unternehmen aber nutzen das Angebot an Arbeitskräften. Sie lassen Flüchtlinge zum Teil weit unter dem türkischen Mindestlohn von umgerechnet 300 Euro pro Monat arbeiten – meistens in Textilfabriken oder auf dem Bau. Auch viele Kinder sind darunter, sie arbeiten als Schuhputzer oder Eisverkäufer oder in Bäckereien.

In der Grenzstadt Akcakale, gut 200 Kilometer von Diyarbakir entfernt, ist es ruhig. Im Sommer mussten Tausende hier in sengender Hitze am Grenzzaun warten, um in die Türkei zu gelangen. Jetzt spielen Kinder auf den staubigen Straßen vor den Toren der Grenzanlagen. Auch am anderen Ende der Flüchtlingsroute, an der Grenze zu Österreich, kommen immer weniger Flüchtlinge an. Von einer Trendwende spricht aber noch niemand.