Berlin/Moskau/Ankara. Türkische Abfangjäger holen russischen Kampfjet vom Himmel – Ankara beklagt Verletzung des Luftraums, Moskau widerspricht

Im Cockpit bleibt nicht viel Zeit, Sekunden nur. Die Suchoi Su-24 ist gerade getroffen worden. Erst ist eine Stichflamme zu sehen, dann kippt der Bomber nach vorn, rast zu Boden. Die Piloten können noch den Schleudersitz auslösen, während der Jet hinter einem Hügel in einem Waldgebiet abstürzt. Ein Knall, helles Licht, Rauchwolken. Der TV-Film, der am Dienstagmorgen in ersten Onlineportalen zu sehen ist, macht schnell weltweit Schlagzeilen. Denn die Piloten sind Russen. Und ihr Jet war von der Türkei abgeschossen worden, einem Nato-Staat. Um 17 Uhr trifft die Allianz zu einer Sondersitzung zusammen. Droht ein Flächenbrand? Es ist der Fall eingetreten, den das Bündnis seit dem militärischen Eingreifen Russlands im Syrien-Krieg im September befürchtet hatte: die direkte Konfrontation. Militärs sind darüber nicht überrascht. Das Risiko im türkisch-syrischen Grenzgebiet sei extrem hoch, „weil sich hier Akteure mit völlig entgegengesetzten Interessen in demselben Luftraum bewegen“, erzählt der Kommandeur der Luftwaffe in Kalkar, Generalleutnant Joachim Wundrak, auf einer Nato-Tagung in Essen. Russland habe wiederholt den türkischen Luftraum verletzt und sich mehrfach dafür entschuldigt.

Die Russen widersprechen der türkischen Darstellung

Am Dienstag ist es 9.20 Uhr, als die Maschine nach türkischer Darstellung ihrem Luftraum gefährlich nah kommt. Die Türken reagieren wie üblich, hundertfach geübt: Abfangjäger des Typs F-16 steigen in den Himmel auf und warnen die Russen, sogar „zehn Mal innerhalb von fünf Minuten“. 17 Sekunden lang, heißt es, sei der Kampfjet tatsächlich in den türkischen Luftraum eingedrungen. Um 9.25 Uhr wird die Maschine abgeschossen. Gerade fünf Minuten sind vergangen. Ein Akt der Verteidigung.

So sehen es die Türken. Die Russen halten dagegen. Sie beteuern, sie könnten beweisen, dass ihr Flugzeug die ganze Zeit über Syrien geflogen sei. Es dauert ein paar Stunden, bis Präsident Wladimir Putin reagiert. Als er am Nachmittag in Sotschi bei einem Treffen mit dem jordanischen König Abdulah Stellung bezieht, wirkte er nicht angriffslustig, sondern verzweifelt. Er spricht gleichförmig, ohne die Stimme zu heben. Offenbar will der Präsident starke Emotionen unterdrücken. Das macht seine Stellungnahme nur dramatischer: „Man hat uns in den Rücken geschossen“, sagt Putin. Der Schuss sei von „Helfern der Terroristen“ abgegeben worden. Das Flugzeug habe sich in 6000 Meter Höhe und vier Kilometer von der türkischen Grenze entfernt gefunden. „Unsere Piloten haben das Territorium der Türkei nicht bedroht. Das ist eine offensichtliche Tatsache.“ Für die russisch-türkischen Beziehungen werde der Abschuss „ernste Konsequenzen“ haben. Ein Besuch von Außenminister Sergei Lawrow in Ankara wird später abgesagt. Kein gutes Zeichen.

Im Krisengebiet steigen türkische und russische Hubschrauber getrennt auf, sie haben ein gemeinsames Ziel: Die Bergung der zwei Piloten in der nordsyrischen Provinz Latakia. Die Türken nennen das Gebiet „turkmenischer Berg“, eine Anspielung auf die Minderheit, die dort vertreten ist, ein türkisches Brudervolk. Die zwei Piloten sind erst einmal auf sich allein gestellt, fünf Kilometer tief im Feindesland. Dem Sender CNN Türk zufolge befindet sich einer in der Gewalt turkmenischer Kämpfer in Syrien, nach dem anderen werde gesucht. In anderen Berichten heißt es, ein Pilot sei ums Leben gekommen. Aus der türkischen Provinz Hatay berichten Augenzeugen, Rebellen würden auf die Helikopter schießen. In der Region kämpfen nicht nur Turkmenen, sondern auch die Al-Nusra-Front, der syrische Ableger des Terrornetzes al-Qaida.

In diesem Mikrokosmos zeigt sich der Konflikt in Syrien wie unterm Brennglas: Turkmenische Einheiten kämpfen an der Seite der Rebellen gegen Baschar al-Assad. Die Regierung in Ankara fühlt sich den Rebellen verbunden – Russland unterstützt Assad. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Tass sind in Syrien 69 russische Kampfjets, Helikopter und Flugzeuge im Einsatz. Darunter befinden sich Su-34-Bomber, Kampfjets der Typen Su-24, S-25, Su-30SM, Su-27SM3, dazu auch Hubschrauber. Die Russen hatten angeboten, ihre Ziele mit der Nato zu koordinieren. Darauf ließ sich bislang einzig Frankreich ein – und auch erst seit den Pariser Anschlägen. Die USA zögern noch. Präsident Barack Obama will nicht in den Ruch geraten, mit den Russen faktisch auch das Regime Assad zu unterstützen. Die Türken und die USA sind noch aus einem anderen Grund in einer misslichen Lage: Hunderte Militärberater der Türkei und der USA befinden sich derzeit noch auf syrischem Boden. Auch sie alle sind eventuell gefährdet.

Seit Tagen nahmen die Spannungen zu. Die Türkei hatte den russischen Botschafter einbestellt, um gegen eine Bombardierung turkmenischer Dörfer zu protestieren. In Ankara sorgt man sich, dass die Luftangriffe einen neun Flüchtlingsstrom auslösen werden.

In den vergangenen Tagen sind nach türkischen Angaben fast 2000 Turkmenen vor den Kämpfen aus ihren Dörfern geflohen und haben in der Nähe der Grenze Zuflucht gesucht. Am selben Tag hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu angekündigt, dass die türkische Armee auf Grenzverletzungen aus Syrien sofort reagieren werde. Russland war gewarnt.