Paris/Berlin. Dramatische Operation von Polizei und Militär im Pariser Vorort Saint-Denis. Berichte über Tod des Drahtziehers Abaaoud

Mehrmals sind Explosionen zu hören. Dann Schüsse und Gewehrsalven, minutenlang. So erzählen es Augenzeugen. Elitepolizisten tragen Helme, Sturmhauben, schusssichere Westen und Kampfanzüge, als sie in die Wohnung in der Rue Corbillon, Hausnummer 8, vordringen. Doch sie stoßen an diesem Mittwoch, um kurz nach vier Uhr morgens, auf unerwartet heftigen Widerstand.

Die französischen Behörden sollen einen Tipp vom belgischen Geheimdienst bekommen haben: In der Wohnung in Saint-Denis, im Norden von Paris, halte sich Abdelhamid Abaaoud auf – er soll der Drahtzieher der Attentate von Paris mit 132 Toten und vielen Verletzten sein. Einige Zeit lebte der 28-Jährige in Belgien, war dort der am meisten gesuchte Dschihadist. Bisher hieß es, er kämpfe für den „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien. Jetzt aber soll er hier sein, in der Rue Corbillon, unweit vom Stade de France, das am Freitag eines der Ziele des Terrors war.

Ein Hubschrauber tastet mit Scheinwerfern die Fassaden ab

Laut „Washington Post“ soll der Kopf der Terroristen bei der Razzia getötet worden sein. Die Zeitung beruft sich auf hochrangige Geheimdienstmitarbeiter. Auch andere Medien berichten davon. Dass Abaaoud tot ist, will die Staatsanwaltschaft am Mittwochabend zunächst nicht bestätigen. Noch seien nicht alle toten Terrorverdächtigen aus der Wohnung identifiziert. Klar ist nur: Der mutmaßliche Kopf der Gruppe, Abaaoud, ist nicht unter den lebenden Festgenommenen.

Und noch eines wird deutlich: Die Dschihadisten hatten offenbar neue Anschlagsziele. Laut Staatsanwaltschaft hat ein weiterer Terrorakt offenbar kurz bevorgestanden. Details nannten die Beamten nicht. Laut Medienberichten zielten die Pläne der Islamisten auf das Pariser Geschäftsviertel La Defense. Und möglicherweise auch auf den großen Pariser Flughafen Charles-de-Gaulle.

Rückblick: Am Morgen beziehen 110 Polizisten und 50 Soldaten Stellung in der Rue Corbillon. Ihre gepanzerten Einsatzfahrzeuge blockieren die Straßen, während der Suchscheinwerfer eines Hubschraubers über die Fassaden der Häuser tastet. Andernorts durchstechen dünne grüne Laserstrahlen die Dunkelheit. Sie stammen von den Zielvorrichtungen der Präzisionsgewehre in den Händen der Scharfschützen, die auf den Häuserdächern postiert sind. Immer wieder peitschen Salven der Schnellfeuergewehre durch die Nacht.

Es gelingt den Spezialeinheiten, drei Personen zu überwältigen und aus dem Haus zu schaffen. Ein Mann wird offenbar von einem Scharfschützen erschossen. Eine Frau in der Wohnung soll sich in die Luft gesprengt haben, als die Polizei hereinstürmte. Doch das Sperrfeuer eines gut verschanzten Mannes zwingt die Polizisten, die bereits fünf Verletzte in ihren Reihen zählen, zum Rückzug. Vorerst.

Nur wenige Nachbarn laufen auf die Straße, nachdem sie den Lärm und die Schüsse hören. Wo sie auftauchen, scheuchen sie Polizisten in ihre Wohnungen zurück. Um halb acht Uhr morgens greifen die Spezialeinheiten noch einmal die Wohnung an. Zeitgleich evakuieren Polizisten die übrigen Wohnungen und bringen Bewohner des Hauses nach draußen. Zu ihnen gehört Sabrine, die sich stundenlang mit ihrem Baby unter dem Bett verkrochen hat und schreckensbleich erzählt, dass „meine halbe, von Kugeln durchsiebte Schlafzimmerdecke heruntergekommen ist“.

Unter Schock steht auch ein junges Ehepaar, das sich mit seinem Kleinkind nach den ersten Schusswechseln in das schmale Badezimmer ihrer Wohnung flüchtete. Vor Angst will die kleine Familie selbst dann nicht herauskommen, als die Beamten sie dort finden.

Auch der Eigentümer der gestürmten Wohnung wird festgenommen

Kindergärten, Schulen und die Universität der Vorstadt bleiben an diesem Tag geschlossen. Bus- und U-Bahn-Verkehr sind unterbrochen. Eine Entwarnung wird auch nach dem zweiten Zugriff nicht gegeben. „Es war, als wäre der Krieg direkt vor meiner Haustür ausgebrochen“, sagt Denis M. Seine Augen sind gerötet, die vergangene Nacht war kurz, bis der Kampf gegen den Terror ihn aus seinem Schlaf riss.

Nach Stunden gelingt es der Polizei, den letzten mutmaßlichen Dschihadisten zu entwaffnen und zu verhaften. Nicht weit entfernt davon nehmen Beamte den wegen Mordes vorbestraften Eigentürmer des gestürmten Appartements zusammen mit einer Begleiterin fest.

„Ein Freund bat mich, die Leute für ein paar Tage unterzubringen“, sagt der Mann dem Sender BFMTV. Er habe nicht gewusst, dass sie Terroristen sein sollten. Dann führen die Polizisten die beiden ab.

Die Beamten durchsuchen noch mehrere Gebäude und die Wohnung nach Waffen. Kurz vor Mittag erklärt Regierungssprecher Stéphane Le Foll, dass der Antiterroreinsatz beendet sei. Gleichzeitig treffen Innenminister Bernard Cazeneuve und Staatsanwalt François Molins in der Rue Corbillon ein. Cazeneuve lobt den „herausragenden Mut“ der Einsatzkräfte „in dieser äußerst gefährlichen Situation“. Molins bestätigt den Tod von zwei mutmaßlichen Terroristen sowie die Festnahme von sieben Verdächtigen.