Kairo.

Jahrelang war er ein Phantom. Seine Anhänger nannten ihn den „unsichtbaren Scheich“, bis Abu Bakr al-Baghdadi im Sommer letzten Jahres nach der Eroberung von Mossul plötzlich in der prächtigen Al-Nuri-Moschee auftauchte, um per Freitagspredigt das „Islamische Kalifat“ auszurufen. Ganz in Schwarz schwor er Vergeltung für an Muslimen verübtes Unrecht. „Bei Allah, wir werden uns rächen, selbst wenn es eine Weile braucht“, deklamierte er.

Paris, Beirut, Scharm al-Scheich, Ankara – der gelernte Koranwissenschaftler hat seine Drohungen wahr gemacht. Geboren wurde Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim al-Badri heißt, am 1. Juli 1971 in Samarra, das am südlichen Rande des sunnitisches Dreiecks im Irak liegt. Seine Familie war nicht wohlhabend, sein Vater gab Religionsunterricht in der lokalen Moschee.

Sohn Ibrahim war schüchtern und introvertiert. Nur wenn er koranische Suren rezitierte, wurde seine Stimme voll und kräftig. Schon damals tadelte er alle, die in seinen Augen gegen die frommen Regeln verstießen. Einer der Nachbarn erinnerte sich, wie Baghdadi einmal völlig aus dem Häuschen geriet, als er auf einer Hochzeit Frauen und Männer zusammen tanzen sah. Wegen seiner mittelmäßigen Noten bekam der junge Salafist an der Universität Bagdad keinen Studienplatz in Jura – er schrieb sich im Fach Koranstudien ein. Nach dem Examen 1996 wechselte er an die Saddam Universität für Islamische Studien, wo er drei Jahre später den Magister in seiner Lieblingsdisziplin, der Koranrezitation, machte.

Die Nachrichten über sein Privatleben sind spärlich. Baghdadi soll zwei Frauen und sechs Kinder haben. Seine erste Frau Asma ist eine Cousine, die Tochter eines Onkels. Isra, die zweite Frau, heiratete er später, nach der US-Invasion 2003.

Heute ist der 44-Jährige eine mächtige Erscheinung mit grimmigem Blick und kräftigen Augenbrauen. Sein schwarzer Turban weist ihn aus als direkten Nachfahren des Propheten Mohammed. Als Führer der mächtigsten Terrororganisation der Welt hat er die Macht, jeden in seinem Herrschaftsgebiet zu köpfen, zu kreuzigen oder steinigen zu lassen, der die Vorschriften des Islam nicht hundertprozentig befolgt. Seine Anhänger nennen ihn ehrfürchtig „Befehlshaber der Gläubigen“ – der Ehrentitel des islamischen Kalifen, der bis zum Ende des Osmanischen Reiches das geistliche und weltliche Oberhaupt aller Muslime auf Erden war.

Beliebt bei Mitgefangenen und amerikanischen Aufsehern

Radikalisiert wurde Abu Bakr al-
Bagh­dadi nach Angaben seiner Weggefährten durch die amerikanische Invasion in den Irak. 2004 nahmen US-Soldaten den Islamgelehrten in Falludscha fest, als er einen Freund besuchte, der bei den Besatzern auf der Fahndungsliste stand. Zehn Monate lang blieb er im Lager Bucca in Südirak. 24.000 Iraker waren hier eingesperrt – radikale Prediger, entlassene Soldaten und Geheimdienstler lebten hier Zelle an Zelle. Viele aus der heutigen Führung des „Islamischen Staates“ lernten sich in diesem Hochsicherheitskomplex kennen.

„Baghdadi war ein sehr ruhiger Mensch“, erinnerte sich einer seiner früheren Mitinsassen. „Aber er hatte Charisma, man konnte spüren, dass er besonders war.“ Bald schon leitete der Neuling das Freitagsgebet und gab Religionsunterricht. Sein brillantes Fußballspiel brachte ihm den Spitznamen „Maradona“ ein. Auch bei den amerikanischen Aufsehern war er gut gelitten. Sie ahnten nicht, dass Bagh­dadi radikale Schriften unter seinen Mitgefangenen kreisen ließ. „Bucca war wie eine Fabrik. Hier wurden wir geformt, hier entstand unsere Ideologie“, sagte später einer von ihnen.

Als Baghdadi am 8. Dezember 2004 wieder freikam, nahm er Kontakt zu al-Qaida auf, die ihn nach Damaskus schickte. Von dort aus begann er, Dschihadisten über die Grenze in den Irak zu schleusen. Zurück in seiner Heimat wurde er Chef der Al-Qaida-Religionswächter, ließ Alkoholtrinker auspeitschen, Dieben die Hand abhacken und Gotteslästerer exekutieren.

2007 promovierte er in Bagdad in Koranrezitation. „Die einzigartigen Perlen bei der Erläuterung des Schatibi-Gedichts, vom Vorwort bis zum Kapitel der beiden Hamsas im Wort – eine Analyse und Untersuchung“, hieß das Thema seiner Dissertation. Nach dem Tod des irakischen Al-Qaida-Chefs Abu Ayyub al-Masri wurde Baghdadi 2010 zu seinem Nachfolger bestimmt. Bereits ein Jahr später schickte er erste Kommandos ins benachbarte Syrien, wo im März 2011 die Massenproteste gegen das Regime von Baschar al-Assad begonnen hatten. Rasch überwarfen sich die radikalen Iraker mit ihren ideologischen Konkurrenten von der syrischen Al-Nusra-Front. Alle Versuche, den immer blutigeren Streit zu schlichten, scheiterten. Im Februar 2014 erklärte die Al-Qaida-Spitze in Afghanistan schließlich den Bruch mit Baghdadi und seinen Kämpfern – und der Aufstieg des „Islamischen Staates“ begann.