Berlin. Die Spur führt nach Syrien. Ein Dschihadist soll die Bluttat von dort koordiniert haben. Sicherheitsbehörden fürchten, dass es weitere Terrorpläne gibt

Abdelhamid Abaaoud lächelt. Wie ein Schuljunge nach seiner letzten Prüfung. Auf dem Kopf trägt er eine Mütze. Und in der Hand eine Maschinenpistole. So fotografierte ihn das Propagandamagazin „Dabiq“ des selbst ernannten „Islamischen Staats“ im vergangenen Jahr. Die Extremisten führten dazu ein Interview mit ihrem Kämpfer aus Europa. Abdelhamid Abaaoud erzählt, wie er vor etwa einem Jahr mit zwei Komplizen aus Syrien nach Europa gereist sei, sie hätten sich Waffen besorgt, einen sicheren Unterschlupf nahe Brüssel gefunden, „um dann die Kreuzzügler zu terrorisieren, die Krieg gegen die Muslime führen.“

Der geplante Angriff auf belgische Sicherheitskräfte scheiterte, die Polizei nahm die Terrorzelle im Januar 2015 hoch. Doch Abaaoud konnte fliehen, reiste zurück zum IS nach Syrien. Seinen Terrorplan gab er offenbar nie auf. Jetzt sehen ihn die französischen Ermittler als den Drahtzieher hinter der Anschlagsserie von Paris. Mindestens einer, wenn nicht zwei der Selbstmordattentäter seien seine Freunde gewesen, berichteten belgische Zeitungen.

Abaaoud ist 28 Jahre alt, er soll aus Marokko stammen. Seit dem vereitelten Terroranschlag im Januar steht er ganz oben auf der Liste der belgischen Fahnder. Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls sagte: „Die Attentate in Paris wurden von Syrien aus organisiert, erdacht und geplant.“ Er könnte damit Abaaoud gemeint haben.

Der Dschihadist ist in Syrien. In Frankreich jagt die Polizei weiter das mögliche Netzwerk des IS. Sieben Terroristen überlebten die verheerende Anschlagsserie in Paris mit mehr als 130 Toten selbst nicht. Fünf von ihnen wurden bislang identifiziert, mindestens ein weiterer Attentäter könnte auf der Flucht sein. Die Polizei durchsuchte landesweit rund 170 Wohnungen und nahm 23 Verdächtige fest. Dabei wurden 31 Waffen beschlagnahmt, darunter in Lyon ein Raketenwerfer. Ziel der Razzien war nach Regierungsangaben vor allem, weitere Anschlagspläne zu vereiteln. Innenminister Bernard Cazeneuve kündigte an, auch Moscheen zu schließen, in denen radikales Gedankengut verbreitet werde. Als Reaktion auf die Anschläge sollen binnen zwei Jahren zudem 5000 neue Stellen bei der Polizei geschaffen werden, kündigte Frankreichs Präsident Hollande an. Die Militärausgaben sollen bis 2019 nicht gekürzt werden.

Noch immer könnte ein Verdächtiger auf der Flucht sein

Doch nicht nur in Frankreich laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Die europäische Polizeibehörde Europol hat sich in die Fahndung nach der Terrorzelle eingeschaltet. Und auch belgische Fahnder durchsuchten am Montag erneut Wohnungen im Brüsseler Ortsteil Molenbeek. Das Viertel ist bekannt für seine starke Dschihadistenszene. Auch der Marokkaner Abaaoud soll hier gelebt haben. Festnahmen gab es aber nicht. Schon am Wochenende hatte die Polizei in Belgien sieben Verdächtige festgenommen. Fünf von ihnen sind wieder frei. Was mit den anderen geschehe, muss noch ein Richter entscheiden.

Einer der Freunde des mutmaßlichen Drahtziehers soll Ibrahim Abdeslam sein. Der 31 Jahre Franzose lebte ebenfalls in Molenbeek und sprengte sich im Pariser Restaurant „Comptoir Voltaire“ in die Luft. Abdeslams Bruder Salah wird seit Sonntag mit Haftbefehl gesucht, auch der 26-Jährige könnte zu den Attentätern von Paris gehört oder ihnen geholfen haben. Er hatte einen belgischen Polo gemietet, mit dem die „Bataclan“-Attentäter zu dem Club fuhren. Der dritte Abdeslam-Bruder Mohamed wurde in Molenbeek festgenommen, ist aber wieder frei.

Zu den identifizierten Attentätern gehört auch Samy Amimour. Er ist gebürtiger Pariser und soll nun an dem Angriff auf den Club „Bataclan“ beteiligt gewesen sein. Gegen Amimour wurde nach Angaben der Staatsanwaltschaft schon im Oktober 2012 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Damals soll er auch geplant haben, in den Jemen zu reisen. Im Herbst 2013 tauchte Amimour unter. Der 28-Jährige hielt sich vor etwa zwei Jahren nach einer Phase der Radikalisierung in Syrien auf. Dort soll auch Ismael Omar Mostefai ab Herbst 2013 gelebt haben. Die Spurensicherung hatte im „Bataclan“ einen Finger gefunden und konnte ihn identifizieren. Mostefai war der Polizei als Kleinkrimineller bekannt. 2014 tauchte er in der Stadt Chartres nahe Paris wieder auf und schloss sich einer Salafistengruppe an. Und auch Bilal Hadfi soll eine Zeit lang in Syrien gelebt haben. Der Franzose gehört zu den Terroristen, die versucht haben sollen, ins Stade de France zu gelangen.

Wie eng die Terroristen in Syrien in Kontakt standen und ob sie gemeinsam ausgebildet wurden, ist unklar. Wären die Attentate tatsächlich vom IS aus Syrien gesteuert, würde dies nach Ansicht des norwegischen Terrorismusexperten Petter Nesser eine neue Dimension zeigen. „Bisher wurden die meisten großen Anschläge in Europa durch Sympathisanten des IS oder von zurückgekehrten Kämpfern aus Syrien verübt“, sagt Nesser, der seit vielen Jahren zum dschihadistischen Terror in Europa forscht. Diese Rückkehrer hätten aber bisher mehr als Individuen agiert und seien nicht eingebunden gewesen in einen großen Terrorplan.

Der US-Geheimdienst und das BKA rechnen mit weiteren Anschlägen

Vom Drahtzieher Abaaoud gibt es Videos und Fotos im Internet. Es sind digitale Fingerabdrücke eines Radikalen. Auf einem der Fotos ist er mit seinem 13-jährigen Bruder Younes zu sehen, den er ebenfalls nach Syrien lockte. Der Junge hält Waffen in den Händen. In dem Interview mit dem Dschihad-Magazin nennt Abaaoud neben Frankreich weitere Ziele der IS-Terroristen: darunter neben Belgien und Kanada auch Deutschland.

Auch der US-Geheimdienst CIA rechnet mit weiteren Anschlägen. „Ich gehe davon aus, dass dies nicht die einzige Operation ist, die der IS in der Pipeline hat“, sagte CIA-Direktor John Brennan. Eine Gefahr für die Bundesrepublik bekräftigt das Bundeskriminalamt. „Jede Art dieser Gewalt richtet sich gegeneuropäische Werte und damit auch gegen Deutschland“, sagte BKA-Präsident Holger Münch der „Welt“. Die Anschläge in Paris zeigten, „dass die Gefährdung durch den Terrorismus hoch ist und auch Deutschland von Attentaten betroffen sein kann“. Zugleich fordert Münch mehr Aussteigerprogramme für Islamisten, um den Radikalen entgegenzuwirken.