Brüssel. Immer wieder führt die Spur von islamistischen Terroristen nach Molenbeek. Der Stadtteil von Brüssel liegt nur wenige Hundert Meter vom Touristenviertel entfernt

Molenbeek: Das ist da, wo die vielen Araber sind. Und die Polizisten. Und die Kameras und Journalisten. Wer an diesem Tag das größte Kontingent stellt, ist nicht ausgemacht. Nicht im Quartier hinter dem Kanal, der Brüssel in eine durchweg ansehnliche historische Altstadt und ihren verrufensten urbanen Vorposten teilt. Nicht im Viertel um die Straßen Delaunoy, Ransfort und Independance. Dort ist alles abgesperrt. Was ist los? „Polizeiaktion“, sagt der Polizist auf dem quergestellten Motorrad. „Mehr kann ich nicht sagen. Aber Journalisten sind da, aus aller Welt, Australien, Japan!“

Dann ein scharfer Knall, offenbar ein Schuss, an einem Haus ein Stück die Rue Delaunoy hinunter, wo sich Salah Abdeslam verschanzt haben soll, verdächtig als Mittäter des Blutbads von Paris. Der Reporter eines englischsprachigen Fernsehsenders baut sich vor der Szene auf, drückt den Rücken durch und erklärt seinen Zuschauern, was los ist. Terroristenjagd in Brüssel, im Viertel Molenbeek-Saint-Jean. Da, wo die schlimmen Kerle wohnen.

Von wegen, sagt ein jüngerer Mann mit dunklen Haaren und dunkelblauer, wattierter Weste, der kopfschüttelnd die Szene verfolgt. „Ich wohne seit zwölf Jahren hier. Das ist ein ganz normales Leben. Die Leute arbeiten, gehen ins Café, besuchen die Moschee.“ Was ist mit Innenminister Jan Jambon, der am Wochenende im Fernsehen gesagt hat, dass die Dinge in Molenbeek außer Kontrolle sind? Dass er dort jetzt – „persönlich“ – aufräumen wird? Weil sich herausgestellt hat, dass auch diesmal, nach den Pariser Attentaten, Täterspuren hierher in den Nordwesten der belgischen Hauptstadt führen? „Wenn der aufräumen will, soll er bei sich anfangen“, meint der junge Mann abschätzig. „Das mit den Terroristen ist doch alles erfunden!“

Der Attentäter, der im August im Thalys überwältigt wurde, kam von hier

Ein paar Fakten gibt es freilich schon. Der marokkanische Attentäter, der im August mit einer Tasche voller Waffen in den Thalys nach Paris stieg und gerade noch rechtzeitig von unerschrockenen Passagieren überwältigt wurde, hatte sich von der Wohnung seiner Schwester in Molenbeek auf den Weg gemacht. Die im Januar nach den Pariser Charlie-Hebdo-Anschlägen in Belgien ausgehobene Terrorzelle hatte hier ihre Hauptstadtfiliale. Und auch der bewaffnete Überfall auf das Jüdische Museum in Brüssel wurde offenbar hier vorbereitet.

Dabei ist Molenbeek, 95.000 Einwohner, keineswegs ein einziger Slum. Zwar gibt es trostlose Ecken, mit heruntergekommenen Plattenbauten, verfallenden Hinterhäusern und sinistren Toreinfahrten. Aber gleich um die Ecke ist es lebendig bunt. Die Hauptstraße Chaussée de Gand ist ein pittoreskes Sammelsurium von Geschäften, Bars und Werkstätten. Für den großzügigen Place Communale, wo die Bezirksbürgermeisterin Françoise Schepmans in einem gediegenen Rathausbau residiert und am Sonntag die Händler auf Kopfsteinpflaster ihre Marktstände aufschlagen, müsste sich auch ein italienisches Städtchen nicht schämen.

Es gibt Bürgerhäuser, Grünanlagen und Neubauten. Die Mieten sind vergleichsweise günstig. Brüssel, Arbeitsplatz vieler gut verdienender Eurokraten und Lobbyisten, ist teuer geworden, das macht für junge Pärchen, Künstler und Kleinunternehmer auch frühere No-Go-Zonen interessant. Noch sind sie überwiegend auf der anderen Seite des Kanals, aber Molenbeek liegt nicht mehr weit ab.

Auswärtige Besucher kommen kaum her, obwohl das Touristenviertel nur ein paar Hundert Meter entfernt ist. Aber unbehaglich müssten sie sich nicht fühlen. Die Tage sind vorbei, da immer mal wieder eine Leiche durch den Kanal trieb und die Polizei sich nähere Nachforschungen sparte, solange der Tote erkennbar nordafrikanische Wurzeln hatte. Wer das Viertel an einem sonnigen Tag im Juni besucht, begegnet kaum einem hellhäutigen Zeitgenossen, wohl aber vielen gut gelaunten und geschäftigen Menschen. Im Schnitt sind sie drei Jahre jünger als die Bewohner der Hauptstadtregion – und ärmer. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent, für die Jungen bis 25 Jahre ist sie sogar höher als 40 Prozent. Das Berufsbildungszentrum SIREAS betreibt seine Molenbeeker Filiale unweit vom Einsatzort der Polizeijagd. Dort bekommen 41 Lehrlinge eine Grundausbildung. Die Familien der meisten stammen nicht aus Europa. Es geht preußisch zu – wer schwänzt oder nicht spurt, fliegt. Religion ist tabu, Gewalt kommt kaum mehr vor.

Die Lehrlinge seien an diesem Morgen verstört gewesen, sagt eine Ausbilderin. Einer habe sich „total aufgeregt“ über den Wirbel und das schiefe Bild des Stadtteils als eines Sumpfes für Dschihadisten-Nachwuchs. Die Ausbilderin, die anonym bleiben möchte, sieht es ähnlich: „Das stört uns gewaltig – eine mediale Sache!“

Drei Blocks weiter kommen die Medienvertreter auf ihre Kosten. Auf einem belagerten Haus klettern Polizisten, ein weiterer Schuss fällt. Doch Salah Abdeslam wird nicht gefasst. Viele Molenbeeker verfolgen den Einsatz wie Dreharbeiten an einem Actionfilm. „Wir haben es wohl mit einem Netzwerk zu tun“, sagt Françoise Schepmans, die Bürgermeisterin.