Paris. 23 Jahre alter Gaststudent aus Deutschland erlebt in Paris das Grauen unmittelbar. Die Terroristen feuern auch auf ihn, verletzen ihn aber nur leicht

Als es am Freitagabend im Café „Bonne Bière“ in der Rue de la Fontaine mehrmals laut knallt, ist Vincent Nöthen nur wenige Meter vom Café entfernt. Der gebürtige Velberter (Nordrhein-Westfalen) schaut zuerst in den Himmel. Dann rennen er und seine Freunde los. „Ich dachte, das sei ein Böller, vielleicht ein Gewitter. Das war brutal laut“, sagt der Erasmus-Student. Sekunden später treffen ihn zwei Kugeln, abgefeuert von den Terroristen. Der 23-Jährige ist einer der 352 Verletzten nach der Terrorserie in Paris.

Der Abend hatte fröhlich angefangen. Vincent Nöthen studiert seit September an der Université Pierre et Marie Curie Ingenieurwesen, er hat an diesem Wochenende Besuch aus Deutschland. Gemeinsam mit den zwei Freunden und zwei Italienerinnen macht sich Nöthen am frühen Abend auf den Weg zu einem iranischem Restaurant ganz in der Nähe vom „Le Petit Cambodge“. Dort werden nur wenige Stunden später mindestens zwölf Menschen von Terroristen erschossen.

Nach dem Essen zieht die Gruppe weiter. In der „Udo-Bar“ ganz in der Nähe gibt es deutsche Currywurst, „da stehen die Franzosen drauf“, das möchte der Velberter seinen Freunden nicht vorenthalten.

Doch soweit kommt es nicht. Als Vincent Nöthen auf der Rue de la Fontaine stehen bleibt, um sich kurz umzuschauen, knallt es wieder, dieses Mal bekommt er zwei Schüsse ab. Ein Streifschuss trifft ihn am Rücken, ein zweiter hinter dem rechten Ohr. „Die Schüsse müssen an einem Auto oder einer Hauswand abgeprallt sein“, sagt er. Nöthen rennt weiter, rettet sich mit vielen anderen Menschen in eine Nebenstraße. Seine Freunde bleiben unverletzt. Sie rufen einen Krankenwagen, legen den Studenten auf den Boden. Mittlerweile blutet das rechte Ohr stark, und auch die Wunde am Rücken brennt wie Feuer. Ein Franzose kommt dazu, redet in schnellem, kaum verständlichen Französisch. „Ich dachte zuerst, er spricht von 15 Minuten. Dabei meinte er die Zahl der Toten, die er gerade gesehen hat.“

Es sind bange Minuten, bis die Sanitäter kommen. „Wir wussten ja nicht, ob die Terroristen wiederkommen oder ob sie uns vielleicht verfolgen.“ In der Nebenstraße sammeln sich immer mehr Menschen. Viele sind verletzt, einige telefonieren mit ihren Angehörigen. Als die Sanitäter endlich da sind, muss es schnell gehen. Sie schneiden das T-Shirt auf, bringen Vincent Nöthen in den Krankenwagen.

Dort machen die Retter gerade das Nötigste, als es an der Tür klopft. Ein Mann fällt Vincent Nöthen um den Hals. Er sei so dankbar, dass er noch lebe, sagt er immer wieder. Der Franzose blutet aus dem Bauch, erzählt, dass er gerade aus der Konzerthalle Bataclan fliehen wollte, als ihm ein Terrorist in den Bauch schoss. Drei Cousins seien dort noch gefangen. Das Blut tropft auf den Boden. Nöthen ist immer noch geschockt: „Dieses Bild kriege ich nicht aus dem Kopf.“ Im Krankenhaus muss der Student lange warten, viele Menschen haben schlimmere Wunden als er. Im Minutentakt kommen Schwerverletzte rein, die Ärzte sind überlastet. „Das war völlig surreal. Das konnte man überhaupt nicht fassen.“ Auf seinem Handy in der Jackentasche kommen Anrufe und Nachrichten von besorgten Freunden und Familie an. Sie bleiben lange unbeantwortet.

Viereinhalb Stunden bleibt Nöthen im Krankenhaus. In Deutschland zeigen mittlerweile fast alle großen Fernsehsender Bilder von Schwerverletzten und Leichen auf der Straße. Um drei Uhr nachts ruft der 23-Jährige seine Mutter zurück. „Es geht mir gut“, sagt er. Seine Mutter war schon lange im Bett, ihrem Sohn werde wohl nichts passiert sein, dachte sie. Als sie dann mitten in der Nacht am Telefon von der Verletzung hört, kann sie nicht viel sagen, er auch nicht. Beide stehen unter Schock.

Den ganzen Morgen waren noch Sirenen und aufheulende Motoren zu hören

Die Ärzte schicken Vincent Nöthen am frühen Morgen endlich nach Hause, auf dem Rücken kleben Pflaster, hinter dem Ohr auch. Sie haben ihm Blut abgenommen. Gemeinsam mit seinen Freunden nimmt er ein Taxi zurück zu seinem Studentenwohnheim in der Cité Internationale Universitaire im 14. Arrondissement. An Schlafen ist nicht zu denken. Noch lange sitzt er mit seinen Freunden zusammen.

Am frühen Sonnabendmorgen versucht der Hobby-Handballer, etwas zur Ruhe zu kommen und zu schlafen. Doch daran ist nicht zu denken. Sein Wohnheim liegt direkt an der Stadtautobahn Périphérique. Immer wieder hört er von dort die Polizeisirenen, quietschende Reifen und aufheulende Motoren.

Es ist Sonnabendabend, als der 23-Jährige sein Zimmer im libanesischen Haus des Studentenwohnheims wieder verlässt – um einzukaufen. Die Supermärkte haben geöffnet, alles andere war geschlossen. Kein Café, kein Restaurant, kein Museum hat geöffnet. Nur wenige Menschen sind auf den Straßen unterwegs. „Es ist eine gespenstische Stimmung. Wir stehen alle unter Schock.“ Zurück nach Deutschland möchte Vincent Nöthen erst einmal nicht, sagt er, als ihn die Redaktion am Telefon erreicht. „Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt über die Grenze kommen würde.“ Im Januar ist sein Auslandssemester zu Ende. Erst dann will der 23-Jährige wieder in München weiterstudieren.

Auf Facebook hat er sich bei seinen Freunden gemeldet. Er gibt an, dass er in Sicherheit ist, postet ein Foto aus dem Krankenhaus. Es zeigt ihn mit nacktem Oberkörper und Verbänden. „Dem Himmel sei Dank, dass es dir gut geht“, schreibt eine Bekannte. „Ich kann das alles noch gar nicht fassen. Nur wenige Meter neben mir sind Menschen gestorben“, sagt Vincent Nöthen, noch immer unter Schock. „Ich habe einfach Glück gehabt.“