In der Klasse wird Helmut Schmidt „Schmiddel“ genannt. Obwohl einer der Kleinsten, führt er gern das Wort. Als „selbstbewusst und redegewandt“ sieht ihn sein Chemielehrer

Hamburg vor 97 Jahren: Vom Dach des Alster­pavillons haben Revolutionäre das Hotel Vier Jahreszeiten am Neuen Jungfernstieg unter Beschuss genommen. Im Rathaus regiert vorübergehend ein provisorischer Arbeiter­- und Soldatenrat. Anfang November werden Senat und Bürgerschaft abgesetzt – aber nur für ein paar Tage, dann haben besonnene Sozial­demokraten das Heft in der Hand. Viele Hamburger hungern und wissen nicht, wie es nach dem Ersten Weltkrieg weitergehen soll. Nur wenige haben Hoffnung.

In dieser wirren Zeit, am 23. Dezember 1918, kommt im Süden Barmbeks ein Junge mit dem Namen Helmut Heinrich Waldemar zur Welt. Die Frauenklinik an der Finkenau 35 ist vier Jahre zuvor eingeweiht worden. Das erste Foto des jungen Hanseaten zeigt einen wonnigen Sprössling mit Pausbäckchen, nackten Füßen und einem weißen Kleidchen mit Rüschen. Wer kann schon ahnen, dass dieser Buttje zu einem der markantesten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts heranwächst und bei seinem Tod am 10. November 2015 ein Erdbeben der Emotionen und der Anteilnahme auslöst.

Dass es Hamburger gibt, die unter weit schlechteren Umständen leben müssen, wird der junge Helmut erst so richtig bei einem Besuch seiner Schulfreundin Loki in deren elterlicher Wohnung ein paar Jahre später bemerken.

Daheim kümmern sich Helmuts Mutter Ludovica und Vater Gustav fürsorglich um ihren Erstgeborenen. Äußerlich ist alles in Ordnung im Hause Schmidt an der Richardstraße 65 zu Barmbek. Die Familie wohnt in einem schmucken Stadthaus aus der Gründerzeit.

Ludovica, eine geborene Koch, ist eine hingebungsvolle Frau, die alles für ihre beiden Söhne tut, vortrefflich kocht und ein intaktes Familienumfeld in unruhigen Zeiten beschert. Ein Teil der Vorfahren stammt aus dem Rheinhessischen. Zudem verhält sie sich den Sitten entsprechend: Gustav ist der Herr des Hauses.

Das Familienoberhaupt ist zwar Lehrer, aber einer mit rigiden Methoden – zumindest in den eigenen vier Wänden. Schläge gehören für die beiden Brüder zum Alltag. Oft setzt es „den Gelben“, einen Rohrstock. Als Jugendlicher reagiert der ältere Helmut auf eine solche Strafaktion gegen seinen jüngeren und neun Jahre vor ihm verstorbenen Bruder Wolfgang mit der Frage an seinen Vater: „Und was machst du, wenn er eines Tages zu­rückschlägt?“ Die Antwort ist nicht überliefert.

Auch im Winter müssen die beiden kurze Hosen tragen. Und: Ein Hamburger Junge weint nicht! Gustav hat sich hochgearbeitet und es aus dem Hafenarbeitermilieu seines Vaters zu Ansehnlichem gebracht. Nach der Ausbildung in einer Anwaltskanzlei schult er zum Pädagogen um. Der Erste Weltkrieg in einem preußischen Infanterieregiment kommt dazwischen, doch wird der junge Soldat – zum Glück im Unglück – früh an der Front verwundet. Über ein Abendstudium bildete er sich zum Handelsschullehrer weiter, gefolgt von den Stationen Studienrat und Direktor. Letzteres als angesehener Diplom-­Handelslehrer einer Hamburger Handelsschule.

Das Auskommen stimmt also, und bei den vier Schmidts in Barmbek kommt ausreichend auf den Tisch. Nichts Üppiges, aber es reicht. Hungern muss Helmut nie. Dass es zum Geburtstag unmittelbar vor dem Weihnachtsfest immer nur ein kleines Geschenk gibt, begreift der kleine Helmut rasch als Vorteil. Damit nicht alle Feiern verschmelzen, werden beide Kindergeburtstage im Sommer abgehalten. Während Wolfgang tatsächlich im Juni zur Welt kam und passgenau feiert, darf Helmut zweimal profitieren – einmal ein bisschen, das andere Mal ein bisschen mehr.

1925 kommt Helmut Schmidt in die Volksschule an der Wallstraße im benachbarten Hohenfelde. Die „Anstalt“ verfügt über einen guten Ruf. Auch hier allerdings zählen Schläge zum Alltag. Zum „pädagogischen“ Repertoire gehören Rohrstöcke, Lineale und mit aufgenähten Knöpfen versehene Lederhandschuhe, die den Kindern um die Ohren gehauen werden.

So weit, so schlecht. Die Einschulung ist ein wichtiger Tag, natürlich mit Schultüte und allem, was hinein­- und dazugehört. Helmut zeigt sich als intelligenter und interessierter, indes nicht allzu fleißiger Pennäler. Wenn die Burschen über die Stränge schlagen, ist Helmut mittenmang. Er spielt Verstecken, Räuber und Gendarm oder kickt mit dem Ball. Im Vergleich zur heutigen Zeit ist nichts los auf den Straßen. Ein Paradies. Das Größte für Helmut ist ein Blockwagen, ein hölzernes Gefährt mit einer kleinen Deichsel.

Sorgsam abgeschirmt vor dem politischen Chaos führt er ein fideles Leben. Wenn sich die Erwachsenen über gesellschaftliche Probleme oder Politik unterhalten, müssen die Kleinen den Raum verlassen. Fernsehen gibt es nicht, Radio kaum, und Zeitungen sind nichts für Kinder. Meint Gustav Schmidt.

Sein Großvater sprach meist Platt, und schreiben konnte er ganz gewiss nicht

Fast jeden Sonntag steht ein Besuch bei Helmut Schmidts Großvater an der Hufnerstraße ebenfalls in Barmbek auf dem Programm. Zusammen mit seiner Frau lebt er dort in einer aus Brettern und Bohlen zusammengezimmerten Kate mit Plumpsklo. Der Mann schuftet als Gelegenheitsarbeiter im Freihafen. Geld wird nur bezahlt, wenn es Arbeit gibt. Dabei „fällt manchmal ein bisschen Ware hinunter“. Mit der für die Familie angenehmen Folge, dass „Großvadder“ Schmidt bisweilen mit prall gefüllter Tüte heimwärts geht. In diesem „Zampelbüdel“ befinden sich mitunter Schätze wie Bier, Dauerwurst oder sogar Apfelsinen. „Mein Großvater sprach meist Platt“, erzählte er später, „und schreiben konnte er ganz gewiss nicht.“ Die Erwachsenen trinken Kaffeeersatz, essen Butter-­ oder Streuselkuchen und halten Klönschnack.

Das Kontrastprogramm sind Besuche bei den Großeltern mütterlicherseits, der Familie Koch. Opa Heinrich ist das Gegenteil des rauen, indes herzlichen Hafenarbeiters aus der Hufner­straße. Heinrich Koch, eine Persönlichkeit mit weißem Bart, hat es geschafft. Zumindest wirtschaftlich. Der Mann ist, wie man seinerzeit respektvoll sagt, „Arbeiter-Aristokrat“. Opa Heinrich verfügt als Drucker und Setzer beim „Hamburger Correspondent“ über ein regelmäßiges und ordentliches Einkommen. Er steht der Sozialdemokratie nahe.

Parallel betreibt er gemeinsam mit seiner Frau und mit Verwandten einen kleinen Weißwarenladen an der Mundsburg, der sich nach und nach in ein Spezialgeschäft für Damenwäsche verwandelt und reelle Umsätze aufweist. Helmut Schmidts Großmutter Amelie Koch ist die Tochter eines Korbmachermeisters aus Mecklenburg, den es schon in jungen Jahren in die Hansestadt Hamburg zog.

Vor allem gibt es Tante Rosi und Onkel Heinz, den jüngeren Bruder seiner Mutter Ludovica. Der Mann ist eine Klasse für sich, ihm kann sich der kleine Helmut anvertrauen, ohne verpetzt zu werden. Helmut beschreibt seinen Onkel als eine Art älteren Seelenverwandten, der stets ein offenes Ohr für den von Natur aus forschen Schüler hat. Und wenn die Hosen oder Pullover nach fidelen Nachmittagen mit den Kumpels auf der Straße Löcher haben und es daheim Prügel setzen könnte, flicken die Verwandten die Kleidungsstücke – und schweigen.

Onkel Heinz Koch und Großvater Heinrich Koch gelten etwas. Nicht nur in Barmbek basch. Auch wenn sich das Unheil der Nazizeit immer drohender anbahnt, kann der kleine Helmut lustvoll und unbeschwert durch das Leben toben. Was er auch ausgiebig macht.

„Onkel Toms Hütte“, ein Sklavendrama aus den amerikanischen Südstaaten, zählt zu Helmuts Lieblings­büchern. Ohnehin ist er eine Leseratte. Mit zehn Jahren entdeckt er die öffentlichen Bücherhallen.

Das Schönste für Helmut sind die Schulpausen. Er spielt fast nur mit Jungs: „Mädchen waren nicht so spannend.“ Er genießt die relative Freiheit des Lernens, als er Ostern 1929 als Elfjähriger in die Sexta kommt; heute wäre das die fünfte Klasse.

Schulzeit mit drei „K“: Kodderschnauze, Klassenprimus, Kumpel

Helmut wird „Schmiddel“ genannt. Anfangs einer der Kleinsten in der Klasse, wächst er im Laufe der Zeit. Unabhängig davon muss er in späteren Jahrgängen für manchen Mitschüler so eine Art Chef gewesen sein. Die drei großen „K“ sind manchem Schulfreund haften geblieben: Kodderschnauze, Klassenprimus, Kumpel. Wenn irgendwo Blödsinn verzapft oder heimlich auf der Toilette geraucht wird, steckt nicht selten „Schmiddel“ dahinter.

Ein anderer vergisst seine Hausaufgaben und wird von Helmut, wohlgemerkt nicht vom Lehrer, zum Papieraufsammeln auf dem Schulhof verdonnert. Das Erstaunliche: Der Junge gehorcht. „Helmut war selbstbewusst und äußerst redegewandt“, wusste Chemielehrer Dr. Helmut Hein zu berichten. Zustimmung kam von Helmut Pless. Der spätere Chefredakteur der „Lüneburger Landeszeitung“ saß jahrelang neben Helmut auf der Schulbank und beschrieb den Bundeskanzler in spe als kameradschaftlichen Typ, der für jeden Spaß zu haben war, allerdings allergisch auf Dummschwätzer und Duckmäuser reagierte. „Schnackfäss“ nennen sie ihn – ob seiner Eloquenz und seines Wortwitzes. Sieh an!

Morgen lesen Sie: Ein schlagkräftiges Mädchen mit dem Spitznamen „Schmeling“ steigt in den Ring. Andere nennen sie Loki ...