BerliN.

Weltgeschichte zu schreiben, ist nur wenigen Menschen vergönnt. Günter Schabowski hat es geschafft – mit einem einzigen Satz. Und selbst der war eher gestammelt und vernuschelt. Auf der Pressekonferenz des SED-Politbüros am 9. November 1989 wurde der hochrangige Parteifunktionär Schabowski gefragt, wann die neue Regelung in Kraft tritt, die DDR-Bürgern Reisen in den Westen erlaubt. Seine legendäre Antwort: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort ... unverzüglich.“ Damit löste er, fast beiläufig, den Fall der Berliner Mauer aus. Am Sonntagmorgen starb Günter Schabowski in einem Berliner Pflegeheim. Er wurde 86 Jahre alt.

Ein Blick zurück: Weil sich die Tschechoslowakei Anfang November ’89 bei der DDR über Tausende von Flüchtlingen beschwerte, die dort Zuflucht suchten, sollte eine Arbeitsgruppe des DDR-Innenministeriums und der Staatssicherheit eilig eine Regelung zur ständigen Ausreise ausarbeiten. Entgegen dem Auftrag nahm die Arbeitsgruppe aber auch die Genehmigung von Privatreisen mit Rückkehr in die DDR in den Entwurf auf. Egon Krenz, Sekretär des Zentralkomitees der SED für Sicherheitsfragen, hatte einige Mühe, das Zentralkomitee (ZK) von dem brisanten Papier zu überzeugen. Dennoch stimmten die Funktionäre zu. Zwischen Tür und Angel drückte Krenz den Entwurf für das Reisegesetz Günter Schabowski in die Hand. Der fehlte bei der ZK-Sitzung, weil er auf der Straße mit Journalisten diskutierte. Von einer Sperrfrist der Regelung bis zum 10. November, die eigentlich laut Krenz geplant war, sei nicht die Rede gewesen, beteuerte Schabowski später immer wieder.

Erst drei Tage auf dem Posten des Regierungssprechers

Er war damals SED-Chef von Ost-Berlin und Sekretär des ZK, unterstand also direkt Erich Honecker. Zudem bekleidete er einen Posten, der erst am 6. November 1989 geschaffen wurde: Sekretär des ZK der SED für Informationswesen, was einem Regierungssprecher entsprach. Diese Position mit Schabowski zu besetzen, war eine folgenschwere Entscheidung, wie sich drei Tage später herausstellen sollte.

Die von ihm geleitete und im Fernsehen live übertragene Pressekonferenz an jenem 9. November plätscherte zum Einschlafen lustlos bereits fast eine Stunde vor sich hin, als Schabowski in bestem Bürokratendeutsch eine politische Sensation verkündete: „Dann haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Die Journalisten waren erstaunt. „Gilt das auch für West-Berlin?“, fragte einer. „Also, doch, doch“, antworte der SED-Mann. „Ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen.“ Und: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“

Das Staunen der westlichen Journalisten wuchs und wuchs. Ein Reporter der „Bild“-Zeitung fasste sich als Erster und fragte, ab wann denn diese Regelung gelten solle. Scheinbar irritiert blickte Günter Schabowski auf seine schriftliche Vorlage. Dann stammelte er den Schlüsselsatz. Mehrere Nachrichtenagenturen verbreiteten nach 19 Uhr die Meldung. Als die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ um 19.30 Uhr verkündete, ständige Ausreisen in die Bundesrepublik seien ohne Umwege und ohne Voraussetzungen möglich, stürmten Tausende Ost-Berliner zu den Grenzübergangsstellen.

Dort verlangten sie von den ebenso überraschten wie überforderten Grenztruppen unter Berufung auf Schabowskis Äußerungen, die Mauer zu öffnen. Am Grenzübergang Bornholmer Straße kamen diese der Forderung als Erste nach und lösten damit eine Kettenreaktion aus – zunächst in Berlin, nach Mitternacht auch an weiteren Stellen der innerdeutschen Grenze. „Die Maueröffnung erfolgte ungeplant und wurde durch die missverständliche Äußerung Schabowskis ausgelöst“, sagte Historikerin Julia Angster. „Sie war die Folge des Zerfalls der DDR und der friedlichen Revolutionen in ganz Osteuropa.“

Vor seinem unscheinbaren aber historisch bedeutenden Auftritt war Günter Schabowski ein treuer Vasall des DDR-Regimes. 1929 in Anklam als Sohn eines Klempners geboren machte er 1946 sein Abitur in Berlin-Friedrichshain und wurde 1947 nach einem Volontariat Redakteur der Gewerkschaftszeitung „Tribüne“. 1952 trat er in die SED ein. Von 1978 bis 1985 war er Chefredakteur des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“. 1981 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der SED, Mitte der 80er-Jahre schließlich SED-Chef von Ost-Berlin, kurz darauf Sekretär des ZK. Aufgrund dieser Position war er zeitweise sogar als Nachfolger des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker im Gespräch. Schabowski gehörte auch zu denen, die 1988 in der viel beachteten Affäre um kritische Schüler an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow den Verweis der Jugendlichen von der Schule durchsetzten.

Nach 1989 wandelte sich Schabowski zum Regimegegner

Nach 1989 wandelte sich Günter Schabowski jedoch im Gegensatz zu anderen DDR-Größen wie Erich und Margot Honecker oder Erich Mielke zum scharfen Kritiker des realen Sozialismus und des SED-Regimes. Er trauere der DDR nicht nach, sagte er etwa. Für die SED-Nachfolgepartei PDS, die ihn im Januar 1990 ausschloss, fand Schabowski nur harte Worte. Er bekenne sich zu Mitverantwortung und moralischer Schuld, sagte der ehemalige Hardliner. „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der Mauer Getöteten. Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“ Die DDR sei „an sich selbst zugrunde gegangen, weil sie ein untaugliches System darstellte“. Als ihm neben dem letzten DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz vor dem Berliner Landgericht der Prozess gemacht wurde, räumte er ein, nichts könne rechtfertigen, dass auch nur ein einziger Flüchtling, „der uns den Rücken kehren wollte, dafür mit dem Leben bezahlen musste“. Damit ging er auf Distanz zu Krenz. Er fand es „einfach peinlich“, dass beim einstigen Parteichef kritische Einsichten fehlten.

1997 wurde Schabowski wegen Totschlags zu drei Jahren Haft verurteilt. Er akzeptierte das Urteil. Schon nach einem knappen Jahr Haft im offenen Vollzug wurde er am 2. Dezember 2000 entlassen, nachdem ihn der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) begnadigt hatte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Günter Schabowski, von schwerer Krankheit gezeichnet, im Pflegeheim.