Berlin . Bundesfinanzminister sieht „dramatische Stimmung“ an der Basis – Von der Leyen stärkt Kanzlerin in der Flüchtlingskrise den Rücken

In der Flüchtlingskrise gerät Kanzlerin Angela Merkel immer mehr unter Druck. Die CSU verschärft ihre Attacken und sorgt sich bereits um die Existenz der Union, die CDU-Basis ist beunruhigt – und in Umfragen verzeichnen die Unionsparteien einen Absturz, wie ihn Merkel in den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft noch nie erlebt hat.

Jetzt rückt auch noch Finanzminister Wolfgang Schäuble von der Kanzlerin ab – und schlägt Alarm: Die Stimmung in der Partei sei „dramatisch“, hat Schäuble in der letzten CDU-Präsidiumssitzung erklärt, wie der „Spiegel“ berichtet. Wenn die Maßnahmen der Regierung nicht bald Wirkung zeigten, stehe der CDU eine „Zerreißprobe“ bevor.

Schäubles Worte haben in der Union besonderes Gewicht, bislang hat er den Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise loyal mitgetragen. Der kaum verhüllte Vorwurf, es fehle der Kanzlerin an Rückhalt für ihre Politik, ist deshalb besonders brisant. Von Kritikern des Merkel-Kurses wird Schäuble schon länger als möglicher Übergangsnachfolger der Kanzlerin genannt, falls sie die Krise nicht übersteht. Ob Schäuble darauf spekuliert, ist offen – aber seine Einlassungen dürften die Unruhe in der Partei weiter anfachen.

CDU-Vize von der Leyen: Basis steht hinter der Kanzlerin

Immerhin, in der aufgewühlten Lage stärken jetzt führende CDU-Politiker Merkel den Rücken. CDU-Vize Ursula von der Leyen sagte dem Hamburger Abendblatt: „Bei aller verständlichen Unruhe angesichts der nie da gewesenen Lage weiß die Basis der Union sehr genau, dass niemand Deutschland und Europa besser durch diese schwere Zeit steuern kann als die Kanzlerin.“ Es sei die Regierung Merkel gewesen, die „in Rekordzeit das Asylrecht reformiert und Abschiebungen erleichtert hat“.

Von der Leyen setzte damit einen deutlichen Kontrapunkt zu CSU-Chef Horst Seehofer. Der hatte am Sonnabend schon gewarnt, ohne Korrektur der Asylpolitik „geht es an die Existenz von CDU und CSU“. Werde die Zuwanderung nicht begrenzt, wachse sie „uns über den Kopf“.

Von der Leyen entgegnete Seehofer nun, es gebe „leider keine einfache Lösung für diese Krise“. Die Kanzlerin habe das früh erkannt und arbeite „mit all ihrer Beharrlichkeit und ihrem internationalen Gewicht daran, die Probleme Schritt für Schritt in den Griff zu bekommen“, so die Verteidigungsministerin. „In den Krisengebieten selbst, an den EU-Außengrenzen, in Brüssel und bei der Wiederherstellung geordneter Verhältnisse im Inland.“ Auch CDU-Vize Thomas Strobl sagte dem Abendblatt: „Ich kenne in der Unionsfraktion niemanden, der Angela Merkel als Bundeskanzlerin und CDU-Bundesvorsitzende infrage stellt.“ Strobl, der auch Vizevorsitzender der Unionsbundestagsfraktion ist, rief CDU und CSU zur Geschlossenheit und zum Verzicht auf öffentliche Auseinandersetzungen auf. „Wenn uns wirklich etwas schadet, dann ist es Streit – insbesondere in der Unionsfamilie.“

Strobl meinte: „Unsere Mitglieder erkennen an, dass wir mit der beschlossenen größten Reform des deutschen Asylrechts einen wichtigen ersten Schritt machen. Doch sie erwarten freilich auch, dass wir weiter alles, wirklich alles tun, um den Flüchtlingsstrom zu begrenzen und zu steuern.“

Das aber ist der Punkt: Merkels Kritiker bezweifeln, dass die Regierung wirklich alles unternimmt, was möglich wäre. Schon in den jüngsten Sitzungen der Unionsbundestagsfraktion wurde Merkel mit massivem Unmut der Abgeordneten konfrontiert – nach internen Schätzungen ist mindestens ein Fünftel der Fraktionsmitglieder gegen ihren Kurs, Tendenz steigend. Ein Teil der Abgeordneten muss inzwischen befürchten, nach der nächsten Bundestagswahl nicht mehr im Parlament zu sitzen.

Mit Spannung wird die nächste Fraktionssitzung am Dienstag in einer Woche erwartet. Dann kommen die Abgeordneten aus den Herbstferien in ihren Wahlkreise zurück, wo sie den Unmut der Parteibasis über den ungebremsten Flüchtlingszustrom und den neuen Zulauf für die AfD erfahren haben. Es wird wohl turbulent. Einzelne Abgeordnete sprechen schon von einem „Tribunal“ und erwägen, von Merkel eine Kurskorrektur zu erzwingen. Die Blicke dürften sich dann auch auf Schäuble richten, der den Versuch der Parteiführung erfolgreich torpediert, die Lage schönzureden. Schäuble ist nicht für eine Schließung der Grenzen, aber er hält Merkels Krisenmanagement für zu unentschlossen.

Angeheizt wird die Unruhe nun auch noch von einer verheerenden Umfrage-Entwicklung. Noch Mitte August lag die Union nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid bei 43 Prozent – in der jüngsten, am Wochenende veröffentlichten Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“ kommen CDU und CSU dagegen nur noch auf 36 Prozent. Im Vergleich zur letzten Umfrage ein Minus von 1 Prozent, immer noch wären die Unionsparteien deutlich stärkste Kraft, aber der Trend ist alarmierend: Innerhalb von 10 Wochen ist die Union um 7 Prozentpunkte abgestürzt – ein solches Tempo hat Emnid selbst bei der SPD zuletzt 2003 gemessen.

Die CSU fürchtet längst den Aufstieg der AfD

Das ist der Hintergrund, warum die CSU ihre Warnungen noch verschärft und jetzt die Existenzfrage stellt. Seehofer hat bereits vorausgesagt, die Union werde in den Umfragen weiter abnehmen. Auch Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) erklärt mit Blick auf den absehbaren Aufstieg der rechtskonservativen AfD, der Umgang mit der Flüchtlingskrise sei von „fundamentaler Bedeutung“ für den Bestand der Union. Dramatischer geht es kaum noch.

Die Warnungen aus der CSU könnte die Kanzlerin als Streit unter Schwestern abtun, doch der Riss geht auch quer durch die CDU und ist dort längst öffentlich zu besichtigen: Erst schrieben über hundert Landes- und Kommunalpolitiker der CDU einen „Brandbrief“ an Merkel mit der Forderung zum radikalen Kurswechsel. Dann gründete sich als Reaktion eine Initiative „Wir schaffen das“ zur Unterstützung von Merkel. Dieser Gruppe haben sich nach Informationen des Abendblatts inzwischen 800 CDU-Mitglieder angeschlossen. Eine der Mitunterzeichnerinnen, Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, lobt: „Merkel hat alles auf eine Karte gesetzt.“