Haltern .

Als Angela Merkel geht, da läuft ein „Tschüss“ mit ihr mit. Hundert Meter sind es vielleicht vom Eingang des Joseph-König-Gymnasiums zur Straße, wo die Limousinen warten; links und rechts hinter roten Absperrkordeln stehen die Schüler und verabschieden sie. Mit dem „Tschüss“ haben die Kleinen ganz oben am Wegesrand angefangen, die Zehn- und Elfjährigen; es hat sich dann selbstständig gemacht und fortgepflanzt, ist im Spalier mal nach links und rechts und wieder zurückgesprungen; Merkel hat es selbst mehrfach wiederholt und ganz zuletzt noch abgewandelt: „Auf Wiedersehen.“

Unten stehen vielleicht 200 Einwohner, viele klatschen der Kanzlerin zu. Nur ein junger Mann sagt laut in die freundliche Szene: „Alles inszeniert.“ Da dreht sich sein Vordermann um und verweist ihn nach Ruhrgebietsart des Platzes: „Geh saufen!“

Der Besuch war versprochen vor sechs Monaten. Auf der Trauerfeier für die Germanwings-Opfer im Frühjahr im Kölner Dom hatte die Kanzlerin Eltern und Schülern zugesagt, zu kommen. Denn 18 der Absturzopfer kamen von dieser Schule, kamen aus dieser Stadt, wo das Ruhrgebiet und das Münsterland sich vermählen: zwei Lehrerinnen und 16 Schülerinnen und Schüler. An sie erinnert vor dem Eingang des Gymnasiums eine Stahltafel, in der die 18 Namenszüge durch Aussparung sichtbar sind: die vollen Namen von Linda und von Caja, von Helena, Fabio, Ann-Christin und all den anderen, die fehlen. Sie fehlen – und doch sieht jeder, der in das Gymnasium will, ihre Namen, jeden Tag. Daneben brennt ein Windlicht.

Ungestört will die Kanzlerin mit den Schülern sprechen

Das ist die Stelle, wo Angela Merkel und die stellvertretende Ministerpräsidentin von NRW, Sylvia Löhrmann (Grüne), weiße Lilien niederlegen, bevor sie im Innern der Schule verschwinden. Denn dieser Besuch ist privat gehalten; ungestört und unbeobachtet will Merkel in zwei Gesprächen mit Schülern aus dem Jahrgang der Toten und dann mit ihren Eltern und Angehörigen sprechen.

Sie nimmt sich 90 Minuten, trägt sich noch ins Kondolenzbuch ein und besucht den „Raum der Erinnerung“, während Journalisten draußen warten und nach der fünften Stunde die Schüler klassenweise auf den Schulhof kommen. „Spannend, sie mal in echt zu sehen“, sagen sie, oder „okay, dass sie kommt, sie ist ja die Bundeskanzlerin“. 20 Minuten Stimmengewirr und „Ich-seh-was“-Angebereien. Als es wirklich wieder etwas zu sehen gibt, da wird es auf dem baumbestandenen Schulhof ganz still. Es ist, ja, Gedenkstille.

Angela Merkel ist wieder herausgekommen und steht auf dem Eingangstreppchen am Mikrofon. „Ich wollte mit diesem Besuch deutlich machen, dass ich an Sie denke, dass die Bundesregierung an Sie denkt und viele, viele Menschen in Deutschland an Sie denken und mitfühlen“, sagt sie. Als sie die Platte gesehen habe mit den ausgesparten Namen, da „ist mir deutlich geworden, welche Trauer Sie hier haben und mit wie viel Liebe und Mitgefühl diese Schule damit umgeht“. Das Geschwisterkind eines Opfers habe ihr ein Buch gegeben mit der Aufschrift „Warum?“: „Das kann niemand beantworten. Mit so einer Frage kann man nur gemeinsam fertigwerden.“ Sechs, sieben Minuten redet sie, einfach, tröstend, dann klatscht der Schulhof.

Angela Merkel ist gerade weg, da äußert sich Schulleiter Ulrich Wessel. Der Abschied von ihren Kindern habe sich für viele Eltern „unendlich hingezogen. Teilweise lagen drei, vier Monate zwischen Unglück und Bestattung.“ Deshalb „war der Besuch der Bundeskanzlerin ein sehr wichtiges Zeichen“. Als Schulleiter habe er die Aufgabe, einen Spagat zu schaffen: „Wir haben seit dem Sommer 156 neue Schüler, die haben ein Recht auf eine unbekümmerte Schulzeit. Andererseits müssen wir erreichen, die 18 nicht zu vergessen, die nicht zurückgekehrt sind.“ Doch der Unterricht muss weitergehen. Johanna König steht noch draußen, die Schülersprecherin: „Es war sehr persönlich“, sagt die 16-Jährige. Die Erinnerung an die 18 werde nicht vergehen, „mir helfen vor allem Gespräche mit meinen Freundinnen“.

Manche Passanten auf der Straße meinen, Kanzlerin Merkel sei zu spät gekommen. Halterns Bürgermeister Bodo Klimpel (CDU) hält der Meinung entgegen, durch solche Besuche fände die Trauer nie einen Abschluss. „Die Kinder sind gerade sieben Monate tot, da können Sie nicht von Abschluss reden“, sagt er. „Wir haben immer gesagt, dass wir die Kinder nicht vergessen wollen, und das ist für die Eltern auch ganz wichtig. Und die Kanzlerin hat das bestätigt.“