Ottawa. Wahlsieger Justin Trudeau will als neuer Premierminister vor allem Politik für die Mittelklasse machen

Umringt von seiner Frau und seinen beiden Kindern verlässt Stephen Harper die Bühne. Sein Sohn Benjamin legt ihm den Arm um die Schultern. Nach fast zehn Jahren an der Macht hat Kanadas konservativer Premierminister gerade den wohl schwersten Gang seiner politischen Karriere hinter sich. „Das Ergebnis ist sicher nicht das, was wir uns erhofft hatten“, gestand der weißhaarige 56-Jährige in der Nacht zum Dienstag in der kanadischen Öl-Metropole Calgary vor Hunderten Anhängern ein. „Aber das Volk hat immer Recht. Wir haben alles auf den Tisch gelegt, wir haben alles gegeben, und wir bereuen nichts.“

Mehr als 80 Sitze hat die Konservative Partei ersten Prognosen zufolge bei der Parlamentswahl verloren, ein denkwürdiges Debakel. Meinungsumfragen hatten derartiges angedeutet, aber dass es so extrem kommen würde, hatten Beobachter nicht erwartet - und wohl auch der designierte neue Premierminister Justin Trudeau nicht.

Knapp über 30 Sitze hatte seine Liberale Partei bei der Wahl 2011 bekommen, dieses Mal sind es ersten Prognosen zufolge mehr als 180, das reicht für eine Mehrheitsregierung. „Ich werde der Premierminister aller Kanadier sein“, verspricht Trudeau vor Hunderten Anhängern in der Ostküstenmetropole Montréal und strahlt mit dem ihm eigenen „Sonnyboy“-Lächeln. „Es ist Zeit für Veränderungen in diesem Land, echte Veränderungen.“

Der bisherige Premier Stephen Harper, der nach der Wahlniederlage auch den Vorsitz der Konservativen Partei abgibt, war bei den Kanadiern nie besonders beliebt. Zu knallhart konservativ, zu wenig interessiert an den Problemen der Menschen und am Umweltschutz, warfen ihm Kritiker vor. In den vergangenen Monaten entwickelte sich eine regelrechte Anti-Harper-Stimmung - doch seine Gegner waren sich zunächst nicht einig gewesen, wen sie stattdessen wählen sollten.

Noch vor wenigen Wochen hatten die Meinungsumfragen deshalb auch ein ganz anderes Bild vorhergesagt. Konservative, Liberale und die sozialdemokratische Neue Demokratische Partei (NDP) lagen Kopf an Kopf. Doch Anfang Oktober gelang Trudeau erstmals eine leichte Führung in den Umfragen, die er nicht mehr hergab. Die NDP landete weit abgeschlagen auf dem dritten Rang.

Trudeau verspricht eine „positive Politik“ und will sich vor allem auf die Mittelklasse konzentrieren. Für viele Kanadier klingt sein Name nach einem „Déjà-Vu“: Trudeaus Vater Pierre war mit einer Unterbrechung zwischen 1968 und 1984 Premierminister Kanadas gewesen. Vor seinen Anhängern erinnert sich Justin Trudeau nach seinem Wahlsieg an diese Zeit. „Meine Kinder schlafen gerade, aber wir brechen jetzt zusammen in ein Abenteuer auf und ich weiß, dass es schwierige Momente gibt als Kind eines Premierministers. Aber Dad wird für Euch da sein.“