Washington. Das Wiedererstarken der Taliban führt zur Kehrtwende im Weißen Haus. Verlängerung des Einsatzes über 2017 hinaus beschlossen

180-Grad-Wende in Afghanistan: Anstatt wie fest versprochen bis Ende nächsten Jahres fast alle der zurzeit noch 10.000 US-Soldaten abzuziehen, verlängert Präsident Barack Obama für 5500 US-Soldaten den Einsatz bis über 2017 hinaus. Jährliche Kosten: 15 Milliarden Dollar. Auslöser: das Wiedererstarken der Taliban.

„Afghanistan steht auf eigenen Beinen“, sagte Obama im Mai 2014 im Rosengarten des Weißen Hauses, „wir beenden heute den Job, den wir nach den Terroranschlägen am 11. September begannen, und bringen unsere Soldaten nach Hause.“

Damit war gemeint, die Truppen auf 10.000 Soldaten bis Ende 2015 und 1000 bis Ende 2016 zu verringern, die nur noch die US-Botschaft in Kabul bewachen. Für die Sicherheit im Land sollte spätestens dann allein die afghanische Armee verantwortlich sein. Obama wollte damit das zentrale Versprechen seiner Präsidentschaft einlösen, Amerikas längsten und teuersten Kriegseinsatz bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit zu beenden. Gestern trat der Commander in Chief im 14. Jahr des Afghanistan-Einsatzes offiziell von seinem Plan zurück. „Sie kämpfen mutig und unnachgiebig für ihr Land“, sagte Obama über die afghanischen Soldaten, „aber sie sind noch nicht so stark wie sie sein müssen.“

Der Vormarsch der radikalislamischen Taliban, zuletzt beim Überrennen der Provinzhauptstadt Kundus augenfällig belegt, und die Unfähigkeit der afghanischen Armee, eigenständig für die Sicherheit am Hindukusch zu sorgen, hat Obama auf Drängen seiner Generäle zu dem neuen Marschbefehl geführt: Ende nächsten Jahres werden weiter rund 10.000 US-Soldaten in Afghanistan Dienst tun. Erst 2017, dann wird längst ein neuer Präsident im Weißen Haus sitzen (oder eine Präsidentin), soll die Zahl schrittweise auf 5500 abgeschmolzen werden.

Dahinter steht die Einsicht, dass ein vollständiger Rückzug eine Wiederholung der Situation im Irak provozieren könnte. Dort hatten der abrupte Abzug der US-Soldaten 2011 und eine desolate irakische Armee den Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) begünstigt. Inzwischen sind wieder über 3000 US-Soldaten in Bagdad stationiert. Die Sorge, dass weite Teile Afghanistans ohne dauerhafte ausländische Hilfe wieder in die Hände der Taliban oder anderer Terrornetzwerke fallen könnten, war zuletzt vor allem in europäischen Hauptstädten größer geworden. Die Zahl afghanischer Flüchtlinge ist in der EU seit Jahresbeginn rasant angestiegen.

Gründe: Nach Angaben der UN war 2014 „das blutigste Jahr seit Beginn des US-Einsatzes 2001.“ Über 10.000 afghanische Zivilisten starben. In 28 von 34 Provinzen haben die Taliban den Kampf gegen die afghanische Armee und die als Besatzer empfundenen internationalen Truppen, darunter 870 Bundeswehrsoldaten, intensiviert. Bombenattentate, oft verübt von aus Pakistan eingeschleusten Terroristen, gehören zum Alltag. Die 350.000 Einsatzkräfte umfassende afghanische Armee, bis heute mit rund 70 Milliarden Dollar von den USA ausgebildet und besoldet, macht dabei eine durchwachsene Figur. Wie der Oberkommandierende der US-Truppen, General Campbell, sagte, desertieren oder sterben pro Monat 4000 afghanische Soldaten. „Ohne unsere Unterstützung aus der Luft“, heißt es inoffiziell im Verteidigungsministerium, „wären viele Städte wieder in Taliban-Hand.“ Dass es dabei zu fatalen Fehlern kommen kann, zeigte zuletzt die US-Bombardierung der Klinik in Kundus.

Die neue Weisung Obamas bewegt sich in der Mitte des Spektrums der Szenarien, die Campbell dem Weißen Haus vorlegte: Beibehaltung der Truppenstärke von 10.000 über 2017 hinaus, leichten Abbau auf 8000, Reduzierung auf 5000 oder Totalrückzug ab Januar 2017. Die US-Streitkräfte werden vier Stützpunkte im Land behalten: Kabul, Bagram, Dschalalabad und Kandahar. Von dort aus sollen die USA mit Unterstützung von rund 3000 Soldaten anderer Truppensteller nicht nur die Ausbildung der afghanischen Armee fortsetzen, sondern auch massiv in den Antiterrorkampf eingreifen. Nach der Ankündigung der USA wird auch wahrscheinlicher, dass die Bundeswehr länger am Hindukusch bleibt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen begrüßte gestern die US-Entscheidung.